Das Mitternachtskleid
aufhängen. Wirst du je zu irgendetwas taugen? Würde ich nicht der Welt und dir einen Gefallen tun, wenn ich dich deine Tat zu Ende bringen ließe?
Das war das Problem mit den Gedanken. Sie dachten sich selbst, und ehe man sich’s versah, drangen sie einem in den Kopf und wollten einen dazu bringen, das Gleiche zu denken. Solche Gedanken durfte man gar nicht erst zulassen. Sie nahmen eine Hexe in Besitz, wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Dann war es aus und vorbei mit ihr, und das Einzige, was blieb, war Gegackel.
Tiffany kannte den alten Spruch, dass man erst dann verstehen kann, was einen anderen Menschen antreibt, wenn man eine Meile in seinen Schuhen gegangen ist. Aber sie fand das nicht besonders einleuchtend, denn bestimmt würde niemand eine ganze Meile brauchen, um zu verstehen, was diesen anderen, der laut »Haltet den Dieb!« schrie, nicht nur an-, sondern vor allem auch hinter einem hertrieb – auch wenn man den Verfolger, schuhlos wie er war, vermutlich locker würde abschütteln können. Trotzdem verstand sie natürlich den tieferen Sinn dieses Sprichworts, und vor ihr lag ein Mensch, der knapp einen Atemzug vom sicheren Tod entfernt war. Sie hatte keine andere Wahl. Wegen einer Handvoll Brennnesseln musste sie dafür sorgen, dass er weiteratmen konnte. Weil eben doch noch etwas Gutes in diesem traurigen Wrack von einem Mann steckte. Es war zwar nur ein winziges Fünkchen, aber es glomm. Daran gab es nichts zu deuteln.
Obwohl sie sich wegen ihrer Gefühlsduseligkeit selbst nicht leiden konnte, nickte sie dem Großen Mann des Clans zu. »Na schön«, sagte sie. »Tu ihm nicht unnötig weh.«
Das Schwert blitzte auf. Kein Chirurg hätte den Schnitt sauberer setzen können, allerdings hätte sich ein Chirurg vorher die Hände gewaschen.
Das Seil zersprang unter der Klinge des Größten und schnellte wie eine Schlange davon. Noch im selben Augenblick holte Micker so tief Luft, dass sich die Kerzenflamme bei der Tür in seine Richtung zu neigen schien.
Tiffany, die neben ihm kniete, stand auf und klopfte sich ab. »Warum sind Sie wieder zurückgekommen?«, fragte sie. »Wonach haben Sie gesucht? Was wollten Sie noch hier?«
Herr Micker rührte sich nicht. Tiffany bekam nicht einmal ein Grunzen als Antwort. Ihr Hass auf die erbärmlich keuchende Gestalt zu ihren Füßen schwand.
Als Hexe musste man Entscheidungen treffen, und oft waren es solche, denen ein normaler Mensch lieber aus dem Weg ging, wenn er nicht gleich ganz die Augen vor ihnen verschloss. Also feuchtete Tiffany draußen an der Pumpe einen abgerissenen Stofffetzen an und wusch ihm damit das Gesicht. Das tote Kind wickelte sie in den sauberen Rest des Lakens, das sie ja für diesen Zweck mitgebracht hatte. Es war zwar nicht das Beste aller Leichentücher, aber mehr konnte sie für Sitte und Anstand nicht tun. Während sie noch fast träumerisch darüber nachsann, dass sie unbedingt ihren Vorrat an provisorischen Verbänden wieder aufstocken musste, kam ihr plötzlich der Gedanke, was für ein großes Glück sie doch eben gehabt hatte. »Danke, Rob«, sagte sie. »Alleine hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft. «
»Ach, wahrscheinlich doch«, flunkerte Rob Irgendwer galant. »Ich kam bloß grad zufällig vorbei. Nich etwa, dass ich dir gefolgt wär oder so. Es war der reinste Zufall.«
»In letzter Zeit häufen sich diese Zufälle aber ganz schön«, sagte Tiffany.
Rob feixte. »Das muss dann wohl noch so ‘n Zufall sein.«
Es war unmöglich, einen Größten in Verlegenheit zu bringen. Dafür hatten sie einfach keine Ader.
Er betrachtete sie eingehend. »Und wie geht’s jetzt weiter? «, fragte er.
Genau das war hier die Frage. Als Hexe musste man die anderen glauben machen, dass man immer wusste, wie es weiterging, auch wenn man nicht den leisesten Schimmer hatte. Micker lebte weiter, das arme Kind blieb tot. »Ich kümmere mich um alles«, sagte sie. »Dafür sind wir Hexen doch da.«
Aber leider war sie in der Einzahl; es gab kein »Wir«. Und während sie durch den Morgennebel zur Blumenlichtung flog, wünschte sie sich nur eins: nicht die einzige Hexe weit und breit zu sein.
Auf der Lichtung im Haselnusswald blühte es vom zeitigen Frühling bis in den späten Herbst hinein. Mädesüß und Fingerhut, Greisenhöschen und Hansspringinsbett, Damenhäubchen und Dreimalschorsch, Salbei und Eberraute, Rosa Schafgarbe und Liebfrauenbettstroh, Himmelschlüssel, Primeln und sogar zwei Orchideenarten.
Hier war die
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