Das mittlere Zimmer
werde sie schon begreifen.
Statt also davonzulaufen, schob sie den Nusskuchen in den Backofen und improv isierte ein Mittagessen mit Zutaten aus der Tiefkühltruhe. Sie rief Achim zum Essen vom Dachboden herunter. Er war fast sofort zur Stelle, wirkte aber, als sei er nach wie vor nicht ganz er selbst. Er setzte sich mit ungewaschenen Händen und ständig herumwanderndem Blick an den Tisch, ohne ein einziges Wort über das Thema ,Verschwundener Samstag‘ zu verlieren. Er tat so, als sei alles in Ordnung und diskutierte, hauptsächlich mit sich selbst, darüber, ob man nun zwei große Dachgauben ausbauen sollte oder nicht.
Später am Nachmittag bekam Rike eher zufällig mit, wie er vom Schlafzimmer aus mit einem seiner Angestellten telefonierte, der ihn am Vortag mehrfach angerufen zu haben schien. Er habe, erklärte er mit schwacher Stimme, genau wie seine Frau mit schwerer Magen-Darm-Infektion im Bett gelegen und nicht einmal den Telefonhörer abnehmen können, um Bescheid zu sagen. Aber morgen werde er wieder im Geschäft erscheinen. Da er sich eine Ausrede hatte einfallen lassen, schien er sich also doch mit dem Phänomen beschäftigt zu haben.
Rike sagte ihm, dass sie gerne allein einen kurzen Spaziergang machen wolle, und zog die dicke Winterjacke an, denn unter dem bedeckten Himmel wehte ein eisiger Ostwind.
Während sie die Feldwege entlangspazierte, hing sie ziemlich absonderlichen Gedanken nach. Warum zum Beispiel konnte sie sich nicht dazu durchringen, aus dem Haus ausz uziehen? Waren ihre unentschlossenen, zwiespältigen Gefühle Teil einer beginnenden Geisteskrankheit, die sie früher oder später direkt in der Psychiatrie enden lassen würde? Denn war vielleicht das, was sie erlebt zu haben glaubte, gar nicht passiert? Hatte sie vielleicht wirklich den ganzen Samstag mit Magen-Darm-Grippe im Bett gelegen, und konnte sich nur nicht erinnern? Aber was war dann mit Achims Verwirrung über den verschwundenen Tag? Bildete sie sich auch das nur ein?
Sie schaute über die ergrünenden Wiesen und Hügel hinweg und vertiefte sich sekunde nlang in den Anblick der fleißig rotierenden Flügel der Windmasten, während der kalte Ostwind allmählich ihr Gesicht taub werden ließ. Und was, wenn sie an einem Wochenende alle gemeinsam verschwanden, für einen Monat, für zwei, wenn ihre Verwandten und Freunde die Polizei einschalteten, wenn die Polizei schließlich ins Haus eindrang, würde sie etwas finden oder würde sie ebenfalls ins Loch fallen?
Was für Fragen! Warum zerbrach sie sich den Kopf darüber? Und einen M oment lang glaubte sie das alles nicht, einen Moment lang kam es ihr unwirklicher vor als ein Traum. Ohne etwas geklärt oder gelöst zu haben, machte sie sich schließlich auf den Heimweg.
In den nächsten Tagen lief Routine ab: einkaufen, kochen, sa ubermachen. Nur zwei Dinge waren anders. Erstens war Achim sehr zugeknöpft, und das in jeder Hinsicht. Zweitens merkte Rike in bestimmten Situationen, wie angespannt auch sie war, wie sie unterbewusst darauf zu warten schien, dass es wieder passierte.
A n einem Donnerstag, als Hannah ihren Mittagsschlaf hielt, schlich Rike ruhelos durchs Haus, bis sie wieder auf der Kellertreppe stand. Ohne Licht. Sie zog die Tür zu und tastete sich abwärts, diesmal bis in den Gang hinunter. Die Augen weit aufgerissen. Die Ohren gespitzt. Sah sie etwas? Hörte sie etwas? Spürte sie etwas?
Der Betonb oden schien durchtränkt vom bläulichen Schimmer. Die Heizung summte. Oder war es gar nicht die Heizung? Von unten stieg Kälte in ihren Beinen empor. Ihr Bewusstsein war wie gefangen von dem Gefühl, eine Offenbarung stehe kurz bevor. Gleich würde sie die Verheißung verstehen. Gleich würde sie wissen, was sie bekam für die Zeit, die sie verlor.
Doch nach einer Weile ebbte da s Gefühl einfach ab. Sie stand im stockfinsteren Keller und kam sich dumm vor. Und plötzlich verspürte sie Angst. War sie nicht in Lebensgefahr? Was machte sie hier! Sie drehte sich um und hetzte die Treppe hinauf, als würde sie von hundert Gestalten aus der Hölle gejagt.
Den Rest des Tages machte sie um die abgeschlossene Kellertür einen großen B ogen.
Als Achim am Freitagabend gegen acht Uhr nach Hause kam, hatte er keinen App etit. Rike merkte schnell, wie nervös er war. Ab und zu kratzte er sich an den Händen und den Unterarmen, ab und zu zuckte sein rechtes Augenlid. Vermutlich dachte er, das ,Zeitphänomen‘ trete grundsätzlich freitagabends auf und werde ihn unter
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