Das Mönchskraut
erinnert, an die Zeit, wo der Junge eben erst im Kloster eingetroffen war und nur das Schlimmste von seinem aufgezwungenen Beruf erwartet hatte. Nun bemerkte er auch an Edwin jenen zögernden Gang, die fest zusammengepreßten Hände in den weiten Ärmeln, die angstvollen Seitenblicke. Aber Edwins Haltung wies auch auf eine gewisse perverse Freude hin. Trotz aller Gefahren konnte er nicht anders - er genoß dieses aufregende Abenteuer. Und Cadfael wollte sich lieber nicht fragen, ob der Junge in seinem Versteck bleiben und die vielen Mußestunden ertragen oder ob er umherstreifen und Unheil heraufbeschwören würde.
Seite an Seite eilten sie durch den Kreuzgang und die Kirche, durch das Westtor und an den Mauern entlang. Sie hatten sich nach rechts gewandt, in die Richtung, die dem Pförtnerhaus entgegengesetzt lag. Es war immer noch dunkel.
»Diese Straße führt nach London, nicht wahr?« flüsterte Edwin unter seiner Kapuze hervor.
»Ja. Aber versuch bloß nicht, auf diesem Weg zu entkommen, selbst wenn du zur Flucht gezwungen würdest - was Gott verhüten möge. Denn sie werden draußen in St. Giles eine Straßensperre errichten. Sei vernünftig und bleib in deinem Schlupfwinkel - und gib mir ein paar Tage Zeit, damit ich meine Nachforschungen anstellen kann.«
Eine helle Frostschicht überzog den dreieckigen Marktplatz.
In einer Ecke erhob sich der Stall der Abtei, nahe bei der Enklave-Mauer. Die Vordertür war verschlossen, aber an der Rückwand führte eine Treppe zu einer kleinen Tür hinauf, durch die man auf den Heuboden gelangte. Auf der Straße herrschte bereits reger Verkehr, trotz der frühen Stunde. Glücklicherweise achtete niemand auf die beiden Mönche von St. Peter, die zu ihrem Heuboden hinaufeilten. Die schmale Tür war versperrt, doch Cadfael hatte einen Schlüssel mitgebracht. Er schloß auf, und sie betraten die trockene, nach Heu duftende Finsternis.
»Den Schlüssel muß ich wieder mitnehmen. Keine Angst - ich sperre dich nicht ein. Hier hast du einen Laib Brot, einen Bohnentopf, eine Schüssel mit Quark und ein paar Äpfel, und hier ist eine Flasche Bier. Behalt die Kutte, in der Nacht wirst du sie vielleicht brauchen, um dich warmzuhalten. Im Heu wirst du weich und bequem liegen. Wenn ich zu dir komme, klopfe ich dreimal. Sollte jemand anderer auftauchen - was ich bezweifle - , mußt du dich im Stroh verkriechen.«
Hilflos stand Edwin da. Cadfael zog ihm die Kapuze von den wirren Locken und sah im schwachen Licht der Morgendämmerung die ernsten Augen des Jungen. »Du hast heute nacht nicht viel geschlafen. An deiner Stelle würde ich mich jetzt im Heu vergraben und mich ausruhen. Und mach dir keine Sorgen. Ich lasse dich nicht im Stich.«
»Ich weiß«, erwiderte Edwin im Brustton der Überzeugung.
Wenn er auch befürchten mußte, daß Cadfaels Bemühungen nicht zum gewünschten Erfolg führen würden - er war wenigstens nicht allein. Er hatte eine treue Familie und Edwy als Mittelsmann - und einen Verbündeten in den Klostermauern.
Und da gab es noch jemanden, der voller Kummer an ihn dachte. Mit einer unsicheren Stimme, die jedoch den alten, selbstbewußten Klang sofort wieder zurückgewann, bat er:
»Sag meiner Mutter, daß ich ihm niemals etwas Böses gewünscht habe - und ihm niemals was antun wollte.«
»Du dummes Kind«, antwortete Cadfael sanft. »Das wurde mir oft genug versichert - und was glaubst du wohl, von wem ich es erfahren habe - wenn nicht von deiner Mutter?« Das graue Morgenlicht war wunderbar weich, und Edwins Gesicht - zwischen Kindheit und Reife, charakteristisch, aber noch unfertig - hätte das Gesicht eines Jungen oder Mädchens sein können, eines Mannes oder einer Frau. »Du siehst ihr ähnlich«, meinte Cadfael und erinnerte sich an Richildis, die seinerzeit nicht viel älter gewesen war als dieser Bursche, die er heimlich umarmt und geküßt hatte, in einem ebensolchen Halbdunkel.
Und ihre Eltern hatten angenommen, sie würde im Bett liegen, in jungfräulicher Einsamkeit. Für einen Augenblick hatte er alle anderen Frauen vergessen, die ihm seither begegnet waren, im Osten und im Westen. Jetzt mußte er wieder an sie denken, und er hoffte und glaubte, daß keine mit dem Gefühl zurückgeblieben war, er hätte falsch an ihr gehandelt. »Am Abend komme ich zu dir«, versprach er und trat in die Winterluft hinaus. Großer Gott, überlegte er auf dem Rückweg zur Kirche, wo er rechtzeitig vor der Prim eintraf, dieser gute Junge könnte mein Sohn sein -
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