Das Monster von Bozen
in der Dämmerung von der Jakobsspitze runter und haben erzählt, dass sie Klaus auf dem Gipfel getroffen haben. Die waren begeistert, weil er so locker war und gleich eine Runde geschmissen hat.«
»Denk nach, Manni: Hast du ihn später noch mal gesehen, vielleicht schon in der Nacht? Oder ist dir was aufgefallen, zum Beispiel eine Stirnlampe?«
Manfred winkte ab. »Wie gesagt, es war proppenvoll. Mir ist nichts aufgefallen, aber das heißt nicht, dass nicht jemand mit einer Stirnlampe hier vorbeigekommen sein könnte.«
Vincenzo verabschiedete sich und setzte seinen Aufstieg fort. Er erreichte den knapp dreihundert Meter höheren Gipfel eine halbe Stunde später. Um diese Zeit herrschte noch ungetrübte Fernsicht. Mantinger war also ein Typ, der das bewusst wahrnehmen und genießen konnte? Interessant.
Er legte das konfiszierte Gipfelbuch zurück in seinen Kasten. Dabei fiel sein Blick auf den Felsen, unter den Mantingers Trinkflasche gerollt war. War sie das wirklich? Er betrachtete die kleine, gerölldurchsetzte Wiese, auf der Mantinger übernachtet hatte. Dann schloss er die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass er einen Marathon lief. Würde er das schaffen? Könnte er sich danach tagelang nicht bewegen? Exakt 42,195 Kilometer. Das wäre wohl selbst für jemanden wie ihn, der Routen lief, die kaum ein Freizeitsportler bewältigen konnte, eine herausfordernde Strecke.
Vincenzo ging ein paar Schritte nach Süden. Er sah über Pfannspitz und Liffelspitz zum Schrotthorn, allesamt durch einen schmalen Grat miteinander verbunden. Wegloses Gelände, steile Grasflanken, nichts für Unerfahrene. Ein Blick auf die Uhr, noch nicht Mittag. Er könnte es probieren, über den Grat bis zum Schrotthorn, von da aus auf markierten Wegen zurück zum Auto. Nicht viel weiter als der Aufstieg, aber anspruchsvoller. Er ging los. Als er nach unten sah, musste er schlucken, obwohl er seit dem Klettersteig zur Schwarzensteinhütte schwindelfrei war. Aber hier war er nicht angeseilt. Er war froh, dass es trocken war und vor allem hell, taghell. Trotzdem würde er mehr als doppelt so lange unterwegs sein wie beim Aufstieg. Aber er wollte nicht mehr umkehren, denn in seinem Kopf hatte sich inzwischen eine Idee festgesetzt. Es würde nicht einfach werden, sie zu überprüfen, zumal Gemini als Schuldiger schon festzustehen schien. Nachdem er die Schalderer Scharte unterhalb des Schrotthorns erreicht hatte, ging er sehr schnell. Er brauchte für die sechs Kilometer Abstieg bis zum Parkplatz keine Stunde mehr. Rasch fuhr er hinunter ins Tal.
In einer kleinen Bar traf er sich mit Marzoli auf einen Mittagssnack. Er wollte seinem Kollegen in neutraler Umgebung von seiner Idee berichten und mit ihm besprechen, wie sie taktisch am besten vorgehen könnten. Vorher wollte er noch wissen, wie Salvatore Gemini auf den dritten Mordvorwurf reagiert hatte. Marzoli hatte sich bereits einen Caffè Doppio sowie eine großzügige Auswahl an kleinen Kuchenstücken bringen lassen. Vincenzo begnügte sich mit einem schlichten Espresso.
Die Augen auf einen Schokoladenkuchen gerichtet, beschrieb Marzoli das Verhör von Gemini. »Unverändert, Commissario, er bestreitet alles. Und selbstverständlich hat er kein stichhaltiges Alibi für den Sonntagabend. Er behauptet, er sei zur Geliebten seines Kompagnon gefahren, um sie zu überreden, die Finger von Schimmel zu lassen, weil ansonsten ein Fiasko für dessen Familie und damit die Firma drohe. Er wollte ihr sogar Geld anbieten. Aber sie war nicht zu Hause, basta.«
Vincenzo sah Marzoli ungläubig an, dessen Augen angesichts eines kleinen Marzipankuchens glänzten wie die eines Kindes bei der Weihnachtsbescherung. Er kannte niemanden, der mit einer solchen Begeisterung und Leidenschaft alles irgendwie Essbare in sich hineinstopfen konnte. »Sein Alibi besteht also darin, dass er zur Todeszeit durch Bozen gefahren ist, um seinen Partner von dessen käuflicher Geliebten zu befreien?«
»Richtig, Commissario.« Marzoli lachte. »Ich finde, allmählich könnten die beiden sich mal was Neues einfallen lassen.« Das war der nächste Punkt, der gegen Gemini sprach. Sollte Reiterer Spuren von ihm in Mancinis Wohnung finden, würde es eng für ihn werden.
Bis es so weit war, wollte Vincenzo dennoch seiner neuen Idee nachgehen. Während Marzoli es schaffte, sich sage und schreibe sechs kleine Kuchen einzuverleiben, schilderte er ihm seine Überlegungen. »Was halten Sie davon, Ispettore? Können Sie sich
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