Das Monster von Moskau
Stufen musste ich nicht hochgehen. Hier war alles flach. Ich blieb dicht vor dem Altar stehen, den Blick direkt auf die Platte gerichtet und schaute mir das Buch an.
Es war nicht mehr heil. Schief lag es auf dem Gestein. Jemand hatte es aufgeschlagen, aber nicht nur das. Mit einem Messer oder einem anderen spitzen Gegenstand hatte jemand wie wahnsinnig auf das Buch eingestochen und einen Teil der vielen Seiten regelrecht zerfetzt. Sie waren auch beschmutzt worden, zerrissen oder zusammengeknüllt.
Ich umrundete den Stein und schaute gegen den Mittelteil des Altars. Im Gegensatz zu den beiden Seiten zeigte die Bemalung keine Szene mit Menschen, dieses Zentrum wurde von dem typischen Lothringer Kreuz oder dem Patriarchenkreuz eingenommen. Es besaß einen normalen Längsbalken, der allerdings von zwei Querbalken durchbrochen wurde, wobei der obere kleiner war als der untere.
Das Kreuz war auf den Hintergrund aufgesetzt worden. Ob dieser auch aus Holz bestand, wusste ich nicht. Das Kreuz jedenfalls war aus diesem weichen Material geschaffen worden, und auch es hatte den scharfen Gegenstand zu spüren bekommen.
Jemand hatte seinen Hass an ihm ausgelassen und wie wild darauf eingestochen.
Ich leuchtete die Seiten ab.
Sie zeigten die normalen Motive. Heilige, entweder kniend betend oder auch stehend und die Arme nach vorn gestreckt.
Die Zerstörung war angefangen, aber noch nicht beendet worden. Wahrscheinlich hatte man den Täter bei seiner verfluchten Arbeit gestört, und das konnte er natürlich nicht haben. Deshalb hatte er sich auf seine Art und Weise gerächt.
Er war noch da.
Ich spürte es, als ich mein Kreuz kurz anfasste. Die leichte Wärme ließ sich nicht verleugnen.
Rechts neben mir tanzte leicht der zweite Kegel der Taschenlampe. Über mir aber war es dunkel. Ich hatte noch nicht gegen die Decke geleuchtet, die nicht sehr hoch war. Als ich es tat, sah ich mehrere Balken, die sich unter dem Dach zusammengefunden hatten.
Ich sah auch, dass der Altar nicht direkt mit der Mauer abschloss. Auch Karina hatte sich mit dieser Tatsache befasst und fragte: »Kannst du mal nachschauen, was sich hinter dem Altar befindet? Ich halte hier inzwischen die Stellung.«
»Okay.«
Meine Antwort war noch nicht ganz verklungen, als es passierte. Es ging verdammt schnell, denn unser Gespräch war von dem gehört worden, den wir suchten.
Zwischen der Rückseite des Altars und der Wand hörte ich ein Kratzen. Zugleich auch einen wütenden Laut. Plötzlich fing das frei stehende Triptychon leicht zu wackeln an.
Schnell ging ich einen Schritt zurück.
Mit der rechten Hand zog ich die Waffe und hielt sie noch nicht richtig in der Hand, als ein mächtiger Schlag das von mir aus gesehen rechte Seitenteil des Altars traf.
Das schwere Holzstück fetzte aus der möglicherweise schon brüchigen Halterung, fiel nach vorn und mir entgegen.
Ich tauchte weg, hörte Karina’s Ruf und dann den irren Schrei, der aus dem Maul des Monsters drang.
Es war da!
Es wollte mich!
Und ich wollte es ebenfalls!
***
Wanja entspannte sich wieder. Ein Stoßgebet floss aus ihrem Mund, als sie die beiden alten Menschen sah, die sich wie Prozessionsgänger bewegten und langsam auf sie zukamen.
Ob sie Furcht hatten, erkannte das Mädchen nicht. Jedenfalls ließen sie sich von der Anwesenheit der Geisterscheinung nicht stören. Sie wussten genau, was sie wollten, und kamen auf Wanja zu.
Neben ihr blieben sie stehen. Zu dritt schauten sie die helle Erscheinung an.
»Hörst du die Stimmen?«, fragte Valentin.
Wanja nickte. »Ja, sie sind alle gekommen. Sie wollen ihre Sünden vergeben haben, aber sie kommen nicht in die Kirche hinein. Da lauert das Böse. Der Teufel und der Hexer haben das Kommando übernommen. Keiner soll mehr hinein...«
»Aber es sind welche in der Kirche.«
»Ja. Karina und John.«
Valentin nickte. Er legte seine Hand schützend auf die Schulter des Kindes, während Malinka ihm die Wange streichelte.
»Du musst nur daran glauben, dass alles gut wird«, flüsterte sie, »dann wird es auch eintreten.«
»Großvater ist da.«
»Ja«, kam die Antwort voller Ehrfurcht zurück. »Wir sehen ihn auch, mein Liebling.«
»Er sagt, dass es Großmutter gut geht. Aber er hat so große Angst um mich.«
»Das braucht er nicht zu haben«, beruhigte Valentin sie, der die Geisterscheinung nicht aus den Augen ließ. »Du bist jung, mein Kind. Du bist das Leben, und du wirst dem Bösen trotzen. Darauf kannst du immer setzen. Die Zukunft
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