Das Monstrum
die versprachen, dass man jeden Versicherungsschutz bekommen würde, den man brauchte, auch wenn man über fünfundsechzig war, kein Vertreter würde an der Tür klingeln, eine ärztliche Untersuchung war nicht erforderlich, die Lieben würden für ein paar Pennies pro Tag voll geschützt sein.
»Nein!«, schrie ’Becka, und das Bild veränderte sich erneut. Jetzt sah sie hinter einem Baumstamm Moss Harlingen kauern, der seinen Vater im Visier der doppelläufigen .30-.30 hatte und murmelte: Nicht du, Em, nicht heute Nacht. Das Bild wechselte, und sie sah einen Mann und eine Frau, die im Wald gruben, die Frau saß hinter dem Armaturenbrett von etwas, was ein wenig wie ein Schaufellader und ein wenig wie etwas aus einem Rube-Goldberg-Cartoon aussah; der Mann schlang eine Kette um einen Baumstumpf. Hinter ihnen ragte ein riesiges scheibenförmiges Objekt aus der Erde. Es war silbern, aber stumpf; die Sonne fiel teilweise darauf, aber es funkelte nicht.
Joe Paulsons Kleidungsstücke schlugen Flammen.
Das Wohnzimmer war vom Geruch kochenden Biers erfüllt. Das 3D-Bild von Jesus wackelte und explodierte.
’Becka kreischte und erkannte, dass sie selbst es die ganze Zeit gewesen war, ob es ihr gefiel oder nicht, sie, sie, sie, und sie ermordete ihren Ehemann.
Sie lief zu ihm, ergriff seine rudernde, zuckende Hand … und wurde selbst galvanisiert.
Jesus o Jesus rette ihn rette mich rette uns beide, dachte sie, als der Strom in sie hineinfloss und sie auf die Zehenspitzen trieb wie die grazilste Primaballerina der Welt
en pointe. Und eine irre, keifende Stimme, die Stimme ihres toten Vaters, schwoll in ihrem Gehirn an: Hab ich dich reingelegt, ’Becka, hab ich? Reingefallen! Dich werde ich lehren, zu lügen! Ein für alle Mal!
Die Rückwand des Fernsehers, die sie wieder festgeschraubt hatte, nachdem sie ihr Gerät eingebaut hatte, wurde mit einem gewaltigen blauen Blitz gegen die Wand geschleudert. ’Becka stürzte auf den Teppich und zog Joe mit sich. Joe war bereits tot.
Als die schwelende Tapete hinter dem Fernseher die Chintzvorhänge entzündet hatte, war ’Becka Paulson ebenfalls tot.
Kapitel drei
Hilly Brown
1
Der Tag, an dem Hillman Brown den spektakulärsten Trick seiner Laufbahn als Amateurzauberer ausführte – eigentlich den einzigen spektakulären Trick seiner Laufbahn als Amateurzauberer –, war Sonntag, der 17. Juli, genau eine Woche, bevor das Rathaus von Haven in die Luft flog. Dass Hillman Brown niemals zuvor ein spektakulärer Trick gelungen war, war nicht verwunderlich. Schließlich war er erst zehn Jahre alt.
Sein Taufname war der Mädchenname seiner Mutter. Es hatte bereits Hillmans in Haven gegeben, als es noch Montgomery geheißen hatte, und wenngleich Marie Hillman es nicht bedauert hatte, Mary Brown geworden zu sein – immerhin liebte sie den Mann! –, hatte sie doch den Namen erhalten wollen, und Bryant hatte eingewilligt. Das neugeborene Baby war noch keine Woche zu Hause, da nannte jeder es Hilly.
Hilly wuchs zu einem nervösen Kind heran. Maries Vater Ev sagte, er hätte Katzenschnurrhaare anstelle von Nerven und würde sein ganzes Leben lang schreckhaft sein. Das waren Voraussagen, die Bryant und Marie Brown nicht gern hörten, aber nachdem sie ein Jahr mit dem Kind lebten, waren es keine Voraussagen mehr, sondern lediglich ein Teil ihres Lebens. Manche Babys versuchen sich zu beruhigen, indem sie in der Wiege oder ihrem Bettchen schaukeln;
andere, indem sie am Daumen lutschen. Hilly schaukelte fast ununterbrochen (wobei er gleichzeitig ziemlich oft wütend weinte), und er lutschte an beiden Daumen – lutschte so heftig, dass sich schmerzhafte Blasen an ihnen bildeten, als er acht Monate alt war.
»Jetzt wird er damit aufhören«, hatte Dr. Lester in Derry ihnen versichert, nachdem er sich die hässlichen Blasen angesehen hatte, die Hillys Daumen verunstalteten … Blasen, um derentwillen Marie weinte, als wären es ihre eigenen. Aber Hilly hatte nicht aufgehört. Sein Bedürfnis nach Trost war offenbar größer als die Schmerzen, welche seine wunden Daumen ihm bereiteten. Schließlich wurden die Blasen zu harten Schwielen.
»Er wird immer schreckhaft sein«, prophezeite der Großvater des Jungen, so oft ihn jemand fragte (und wenn ihn niemand fragte, auch; mit dreiundsechzig war Ev Hillmann unermüdlich geschwätzig). »Katzenschnurrhaare anstelle von Nerven, aber sicher! Er wird seine Eltern auf Trab halten, das wird Hilly.«
Hilly hielt sie tatsächlich auf Trab.
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