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Das Monstrum

Das Monstrum

Titel: Das Monstrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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der jüngere ein großes Talent für Kunststücke hat, das ihm selbst fehlt. Tatsächlich beschämt dieser Junge schon beim ersten Versuch, eine Münze in der Hand verschwinden zu lassen, den Erzähler ungemein.
    An dieser Stelle freilich enden die Gemeinsamkeiten; David hatte nicht mehr Talent für Zauberei als Hilly. David bewunderte seinen Bruder, und er hätte auch dann in geduldigem, aufmerksamem und liebevollem Schweigen dagesessen, wenn sein Bruder nicht versucht hätte, die Buben aus dem »brennenden Haus« laufen oder Kater Victor aus seinem Zaubererhut auftauchen zu lassen (besagter Hut wurde im Juni weggeworfen, nachdem Victor reingeschissen
hatte), sondern David stattdessen einen Vortrag über die Thermodynamik von Dampf gehalten oder ihn alle Vorfahren Christi aus dem Matthäus-Evangelium vorgelesen hätte.
    Nicht dass Hilly als Zauberer ein völliger Versager gewesen wäre; das war er nicht. HILLY BROWNS ERSTE GALAZAUBERVORSTELLUNG, die an dem Tag im Garten der Browns stattfand, an dem Jim Gardener Troy verließ, um am New England Poetry Caravan teilzunehmen, galt sogar als großer Erfolg. Ein Dutzend Kinder – größtenteils Hillys Freunde, aber auch einige aus Davids Kindergarten zum auffüllen – und vier oder fünf Erwachsene kamen und sahen zu, wie Hilly ein rundes Dutzend Tricks vorführte. Die meisten dieser Tricks gelangen, nicht aufgrund von Talent oder echtem Können, sondern aufgrund der Unermüdlichkeit, mit der Hilly geübt hatte. Alle Intelligenz und Unermüdlichkeit auf der Welt können ohne eine Spur von Talent keine Kunst hervorbringen, aber Intelligenz und Unermüdlichkeit können großartige Imitationen hervorbringen.
    Zudem muss man Folgendes zu dem Zauberkasten sagen, den Bryant beinahe aufs Geratewohl gekauft hatte: Seine Schöpfer wussten, dass die meisten der aufstrebenden Zauberer, in deren Hände ihr Werk wahrscheinlich fallen würde, ungeschickt und unbegabt sein würden; daher hatten sie sich vor allem auf mechanische Verfahren verlassen. Zum Beispiel musste man sich wirklich anstrengen, um den Trick mit den sich vermehrenden Münzen zu verpatzen. Dasselbe galt für die Zauberguillotine (auf deren Plastik diskret MADE IN TAIWAN gestempelt war), die mit einer Rasierklinge bestückt war. Wenn ein nervöses Kind aus dem Publikum (oder ein völlig gelassener David) den Finger in die Vertiefung der Guillotine legte, über einem Loch, in dem eine Zigarette lag, dann würde Hilly die Klinge
heruntersausen lassen und die Zigarette in zwei Hälften schneiden … aber der Finger würde auf wundersame Weise ganz bleiben.
    Nicht alle Tricks waren auf mechanische Vorrichtungen angewiesen, um einen Effekt zu erzielen. Hilly brachte Stunden damit zu, ein beidhändiges Mischen zu üben, das es ihm ermöglichte, eine Karte von ganz unten im Stapel nach ganz oben »schweben« zu lassen. Das brachte er sogar ganz gut fertig, freilich ohne zu wissen, dass ein solcher Kartentrick für einen Falschspieler wie »Pits« Barfield viel wichtiger ist als für einen Zauberer. Bei einem Publikum aus mehr als zwanzig Personen geht die intime Wohnzimmeratmosphäre verloren, und normalerweise kommen nicht einmal die spektakulärsten Kartenkunststücke an. Hillys Publikum war relativ klein; daher gelang es ihm, es in seinen Bann zu ziehen – Kinder und Erwachsene gleichermaßen -, indem er nonchalant Karten, die in die Mitte des Stapels geschoben worden waren, ganz oben aufdeckte; indem er Rosalie Skehan eine Karte, die sie sich angesehen und dann wieder in den Stapel gesteckt hatte, in ihrer Handtasche finden ließ, und natürlich indem er die Buben aus dem »brennenden Haus« laufen ließ, was vielleicht der beste Kartentrick ist, der jemals erfunden wurde.
    Natürlich gab es Pannen. Hilly ohne Pannen, sagte Bryant an diesem Abend im Bett, das wäre wie McDonald’s ohne Hamburger. Als er versuchte, einen Krug Wasser in ein Taschentuch zu schütten, das er von Joe Paulson geliehen hatte, dem Briefträger, der etwa einen Monat später einen tödlichen Stromschlag erleiden sollte, machte er lediglich das Taschentuch und seine Hose nass. Victor weigerte sich, aus dem Hut hervorzukommen. Am peinlichsten aber war, dass der Trick mit den verschwindenden Münzen, den zu lernen Hilly Blut und Wasser geschwitzt hatte,
nicht klappte. Er ließ die Münzen in der Handfläche verschwinden (eigentlich handelte es sich um wagenradgroße runde, in Metallfolie eingewickelte Schokoladenscheiben, die unter dem

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