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Das Monstrum

Das Monstrum

Titel: Das Monstrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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praktizieren, sagte sie zu ihm, aber sie wollte ihm helfen, wo sie konnte. Ralph willigte ein. Jeder vernünftige Mann, der Ruth Merrills reine, intelligente Schönheit sah, hätte eingewilligt. Als Ralph sie 1959 heiratete, war sie Anwältin.
    Sie kam als Jungfrau in ihr Hochzeitsbett. Sie machte sich deswegen ein bisschen Sorgen, wenngleich nur ein tiefer Teil ihres Verstandes – ein Teil, über den nicht einmal sie ihre sonstige eiserne Kontrolle ausüben konnte – es wagte, sich auf eine verschwommene Art Gedanken darüber
zu machen, ob dieser Teil von ihm auch so groß war wie alles andere; manchmal, wenn sie tanzten oder sich küssten, fühlte er sich so an. Aber er war sanft, und sie erlebte nur einen kurzen Augenblick des Unbehagens, der sofort der Lust wich. »Mach mich schwanger«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während er anfing, sich über ihr und in ihr zu bewegen.
    »Mit Vergnügen, schöne Dame«, sagte Ralph ein wenig atemlos.
    Aber Ruth empfing nicht.
    Ruth, das einzige Kind von John und Holly Merrill, erbte eine märchenhafte Geldsumme und ein prächtiges Haus in Haven Village, als ihr Vater 1962 starb. 1963 verkauften sie und Ralph ihr kleines Nachkriegsreihenhaus in Derry und zogen nach Haven. Und obwohl keiner der beiden dem anderen je etwas anderes als uneingeschränktes Glück bekannt hätte, waren sich doch beide deutlich bewusst, dass es in dem alten viktorianischen Haus zu viele leere Zimmer gab. Vielleicht, dachte Ruth manchmal, kann es uneingeschränktes Glück nur geben, wenn es von kleinen Dissonanzen begleitet wird, zum Beispiel dem Zerschellen einer umgeworfenen Vase oder eines Goldfischglases; einem durchdringenden Jubelschrei, wenn man gerade in einen süßen Nachmittagsschlummer sinkt; ein Kind, welches an Halloween mit Süßigkeiten schwanger wird und in den frühen Morgenstunden des ersten November einen Albtraum gebiert. In ihren sehnsüchtigen Augenblicken (Ruth achtete darauf, dass es davon verdammt wenige gab) dachte sie manchmal an die mohammedanischen Teppichknüpfer, welche immer absichtlich einen Fehler in ihre Arbeit einarbeiteten, um damit dem vollkommenen Gott zu huldigen, der sie als weniger unfehlbare Geschöpfe erschaffen hatte. Mehr als einmal kam ihr der Gedanke, dass im Teppich eines
erfüllten Lebens ein Kind einen so respektvollen Fehler garantierte.
    Aber meistens waren sie glücklich. Sie bereiteten Ralphs schwierigste Fälle gemeinsam vor, und seine Aussagen vor Gericht waren immer leise, respektvoll und vernichtend. Es war einerlei, ob man ein betrunkener Fahrer war, ein Brandstifter oder ein Tunichtgut, der bei einer Kneipenprügelei einem anderen eine Bierflasche auf dem Schädel zertrümmert hatte. Wenn man von Ralph McCausland verhaftet wurde, dann standen die Chancen, dass man ungeschoren davonkam, etwa so wie die eines Mannes, der im Zentrum eines Atombombentests stand, nur ein paar Fleischwunden abzubekommen.
    In den Jahren, während Ralph langsam, aber sicher die Karriereleiter der Polizeibürokratie von Maine emporkletterte, begann Ruth ihre Karriere im Dienste der Stadt – nicht dass sie darin jemals »Karriere« gesehen hätte, und ganz sicher sah sie darin nichts, was mit »Politik« zu tun hatte. Keine Stadtpolitik, sondern Dienst für die Stadt. Das war ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Freilich machte die Arbeit sie nicht so restlos glücklich, wie die Leute glaubten, mit denen sie zusammenarbeitete. Sie hätte ein Kind gebraucht, um die wahre Erfüllung zu finden. Daran war nichts Überraschendes oder Entwürdigendes. Schließlich war sie ein Kind ihrer Zeit, und nicht einmal die Intelligentesten sind gegen ein unablässiges Bombardement von Propaganda immun. Sie und Ralph waren bei einem Arzt in Boston gewesen, und nach eingehenden Untersuchungen versicherte er ihnen, dass sie beide fruchtbar waren. Er gab ihnen den Rat, sich zu entspannen. In gewisser Weise war das ein grausamer Befund. Wäre einer von ihnen steril gewesen, dann hätten sie ein Kind adoptiert. So beschlossen sie, eine Weile zu warten und den Rat des Arztes zu beherzigen
… oder es zu versuchen. Und als sie anfingen, sich über eine Adoption zu unterhalten, hatte Ralph nicht mehr lange zu leben, auch wenn sie es beide nicht wussten oder auch nur ahnten.
    In den letzten Jahren ihrer Ehe hatte Ruth eine Art eigener Adoption vorgenommen – sie adoptierte Haven.
    Zum Beispiel die Bibliothek. Die Pfarrei der Methodisten war seit undenklichen Zeiten voller Bücher

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