Das Moor Des Vergessens
arbeitende Verkäufer, für ihre Transaktionen den Schutz der Dunkelheit vorzogen. Es spielte keine Rolle, ob sie mit Drogen dealten, geschmuggelten Alkohol und Zigaretten, gestohlene DVD-Player oder ihre Körper verkauften. All diese Aktivitäten wurden durch das fehlende Licht begünstigt. Es ließ sich nicht leugnen, dass das auch für Tenille das Leben an diesem Abend leichter machte. Hatte irgendjemand sie von einem Ende der Siedlung zum anderen flitzen sehen, dann ließ er es jedenfalls weder sie noch die Polizei wissen. Tenille arbeitete sich vorsichtig zum anderen Ende von Marshpool vor, wo eine Reihe baufälliger abschließbarer Garagen die Grenze zwischen der Siedlung und der Welt da draußen markierte. Eine niedrige Brüstung schirmte die flachen Dächer vor Personen auf dem Parkplatz darunter ab. Sie ging hinter den Garagen vorbei und quetschte sich in einen schmalen Spalt zwischen den Mauern an der Rückseite und den hohen Holzzäunen der Privathäuser dahinter. Ungefähr fünfzig Meter weiter kam sie an eine Stelle des Zauns, der stabiler war als die anderen Teile. Einer der Einbrecher aus der Siedlung, der über Unternehmungsgeist verfügte, hatte kleine Holzklötze an den Zaun geschraubt und so eine Reihe primitiver Stufen geschaffen. Sie gewährten einen leichten Einstieg in einen Garten der angrenzenden Vorstadt, von wo man wiederum zu den Nachbargärten und dann weiter gelangte.
Aber Tenille hatte vor einiger Zeit entdeckt, dass diese Stufen auch eine Zugangsmöglichkeit zu den Dächern der Garagen eröffneten. An schönen Tagen saß sie gerne friedlich lesend auf dem Dach und sonnte sich. Das Dach war jedoch brüchig. Sie hatte gelernt, vorsichtig immer nur auf einen Querbalken zu treten, wenn sie das Dach überquerte, weil die Dachpappe mit den Jahren morsch geworden war. Heute Nacht plante sie, dies zu ihrem Vorteil zu nutzen. In dem Zwischenraum war es stockdunkel, und Tenille musste sich langsam vortasten. Als sie den Teil erreichte, den sie suchte, lehnte sie sich an den Zaun, hielt sich an den Holzklötzen weiter oben fest und schwang sich hinauf. Nach einer kurzen Kletterstrecke saß sie rittlings auf dem Zaun, drei Meter hoch über dem Weg. Behutsam, mit einer Hand auf dem Zaun, duckte sie sich, damit sie nicht herunterfiel. Unendlich langsam bewegte sie die andere Hand auf das Garagendach zu. Als sie die raue Oberfläche des Dachs fühlte, richtete sie sich auf und ließ sich in Richtung Dach fallen, hielt sich mit beiden Händen daran fest und stieß sich mit aller Kraft vom Zaun ab, über die Lücke hinweg. Dabei drehte sie sich so, dass sie liegend am Rand des Dachs landete.
Tenille keuchte. So weit hatte sie es geschafft. Jetzt kam der schwierige Teil. Von hier oben sah man nicht, wo das Ende der einen Garage und der Anfang der nächsten war. Aber sie wusste, dass es zehn waren. Diejenige, zu der sie vordringen wollte, war die drittletzte vor dem Ende, wo sie sich in die Lücke geschoben hatte. Es war schwierig, es genau zu berechnen, aber sie meinte, sie müsste sich noch ungefähr zwei Meter nach links bewegen, um an der richtigen Stelle zu sein. Tenille rutschte langsam auf dem Dach entlang; dass sie dabei ihre Kleider beschädigte, war ihr egal. Sie würde sie sowieso nicht mehr brauchen. Als sie an der richtigen Stelle zu sein glaubte, nahm sie vorsichtig ihren Rucksack ab und holte den Hammer heraus.
Beim ersten Schlag bekam der alte Belag Risse, mit dem zweiten schlug sie ein Loch hinein. Tenille nahm den Klauenhammer, um so viel von der brüchigen Pappe zurückzuziehen, dass sie mit ihrem Hammer ein Loch in die Gipsplatte der Decke hauen konnte. Mit der Taschenlampe leuchtete sie hinein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatte richtig geraten, denn sie war direkt über der Garage, in der Junior B und sein Bruder ihre Sachen aufbewahrten. An den Wänden sah sie Kartons aufgereiht, manche schon offen, und der Strahl der Lampe glänzte auf den Plastikbeuteln, die die Ware für Junior Bs Marktstand enthielten. Sie brauchte nicht lange, um das Loch groß genug zu machen, damit sie durchschlüpfen konnte, war aber darauf bedacht, so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Obwohl die meisten Leute in Marshpool es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, nie etwas Verdächtiges zu sehen oder zu hören, gab es doch gewisse unerwartete Geräusche, die eine weitere Untersuchung nach sich ziehen konnten. Sobald Tenille sicher war, dass sie einsteigen und wieder
Weitere Kostenlose Bücher