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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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oben zu bleiben. David und Rowena starrten die Erscheinung an, aber Tante Faith war nur wenig beunru­higt.
    »Iris, Liebes«, sagte sie, »was hast du gemacht?«
    Iris trippelte geziert in die Mitte des Wohnzimmers. Sie hatte ihre flachen Schuhe anbehalten, und ihr Versuch, anmutig zu sein, wirkte fast komisch; David lachte aber nicht.
    »Geh hinauf und zieh dich um«, sagte er kurz. »Du hast kein Recht, die Kleider meiner Schwester anzuziehen.«
    Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht, und sie sah Tante Faith an. »Oh, Tante Faith!« jammerte sie. »Du weißt doch, was ich dir gesagt habe! Ich muß die Kleider deiner Nichte tragen, damit ich ihre ... Aura spüren kann.«
    »Aura, du liebe Güte!« sagte David.
    Sie starrte ihn wie benommen an. Dann sank sie in den Ohrensessel am Kamin und schluchzte. Tante Faith wie­derholte schnell ihren nachmittäglichen Liebesdienst und schalt David.
    »Das hättest du nicht sagen dürfen!« sagte sie ärgerlich. »Da versucht das arme Kind, uns zu helfen, und du ver­dirbst alles, David!«
    »Tut mir leid«, sagte er gequält. »Es sieht so aus, als ge­hörte ich nicht zu den Gläubigen, Tante Faith.«
    »Du willst ihr ja nicht mal eine Chance geben!«
    Tante Faith wartete mit nachdenklichem Gesicht, bis Iris aufhörte zu schluchzen, dann beugte sie sich dicht zum Ohr des Mädchens. »Hör mal, Iris. Du erinnerst dich doch daran, was du im Heim getan hast? Daran, wie du Schwe­ster Theresas Sachen wiedergefunden hast?«
    Iris zwinkerte die letzten Tränen fort. »Ja.«
    »Glaubst du, du könntest das wieder tun, Iris? Sofort, hier für uns?«
    »Ich ... ich weiß nicht. Ich könnte es versuchen.«
    »Läßt du sie’s versuchen, David?«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Ich möchte, daß du etwas versteckst, oder daß du uns einen Gegenstand nennst, den du verloren oder verlegt hast, vielleicht irgendwo hier im Haus.«
    »Das ist doch albern. Das ist ein Gesellschaftsspiel …«
    »David!«
    Er runzelte die Stirn. »Na gut, wie du willst. Wie soll dies kleine Versteckspiel vor sich gehen?«
    Rowena sagte: »Was ist mit der Katze, David?«
    »Der Katze?«
    »Du erinnerst dich doch. Du hast mir mal von einem Wollkätzchen erzählt, das du als Kind hattest. Du sagtest, du hättest es irgendwo im Haus verloren, als du fünf warst, und daß du so unglücklich darüber gewesen wärst, daß du tagelang nichts essen wolltest.« »Das ist doch absurd. Das ist dreißig Jahre her ...«
    »Um so besser«, sagte Tante Faith. »Um so besser, Da­vid.«
    Sie wandte sich an das Mädchen: »Glaubst du, du kannst es finden, Iris? Kannst du Davids Stoffkätzchen finden?«
    »Ich bin nicht sicher. Ich bin niemals sicher, Tante Faith.«
    »Versuch’s einfach mal, Iris. Wir werden dir keine Vor­würfe machen, wenn du’s nicht schaffst. Jemand könnte es ja schon vor ewigen Zeiten weggeworfen haben, versuch’s aber trotzdem mal.«
    Das Mädchen setzte sich auf und legte das Gesicht in seine Hände.
    »David«, flüsterte Tante Faith, »mach doch das Licht aus.«
    David knipste die Tischlampe aus, die einzig den Raum erhellte. Die Flammen im Kamin erweckten ihre Schatten zum Leben.
    »Versuch’s mal, Iris«, ermutigte Tante Faith.
    Plötzlich war das laute Ticken der Uhr auf dem Kamin­sims hörbar. Dann ließ Iris die Hände schlaff in ihren Schoß fallen und lehnte sich mit einem langen, gequälten Seufzer in den Ohrensessel zurück.
    »Sie ist in Trance«, flüsterte Tante Faith. »Du siehst es, David, du mußt es sehen. Das Mädchen ist in einer echten Trance.«
    »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte David.
    Iris hielt die Augen geschlossen, und ihre Lippen beweg­ten sich. In ihren Mundwinkeln wurden kleine Tropfen Speichel sichtbar.
    »Was sagt sie?« fragte Rowena. »Ich kann sie nicht ver­stehen.« »Warte! Man muß warten!« mahnte Tante Faith.
    Iris’ Stimme wurde hörbar. »Heiß«, sagte sie. »Oh, es ist so heiß ... so heiß ...« Sie wand sich im Sessel, und ihre Finger zerrten am Halsausschnitt des Abendkleides. »So heiß hier hinten!« sagte sie laut. »Oh, bitte! Oh, bitte! Kätzchen ist so heiß! Kätzchen ist so heiß!«
    Dann schrie Iris, und David sprang auf. Rowena trat zu ihm und ergriff seinen Arm.
    »Es ist nichts!« sagte David. »Siehst du nicht, daß sie uns das alles nur vorspielt?«
    »Still, bitte«, sagte Tante Faith. »Das Mädchen leidet Schmerzen!«
    Iris stöhnte und warf sich im Sessel hin und her. Auf ih­rer Stirn standen jetzt Schweißperlen, und

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