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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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hatten.
    Iris schaute heraus. Das Haar war ihr über ein Auge ge­fallen. Bei seinem Anblick nahm ihr verdrießliches Ge­sicht einen sinnlichen Ausdruck an, und sie legte die Hän­de auf ihre gestaltlose Schuluniform, dort, wo ihre Hüften hätten sein sollen.
    »Hallo, schöner Mann«, sagte sie. »Tantchen meinte, Sie wären für mich einkaufen gefahren.«
    »Was hast du vorhin angestellt?« Er trat ins Zimmer und schloß die Tür. »Meine Tante ist nicht gesund, Iris, und wir werden kein schlechtes Betragen dulden. Also, was war hier los?«
    Sie zuckte mit den Schultern und ging zum Bett zurück.
    »Nichts«, sagte sie mürrisch. »Ich hab ne Kippe in nem Aschenbecher gefunden und nen Zug genommen, da kam sie rein. Man hätte meinen können, ich hätte das Haus an­gesteckt, so hat sie gebrüllt.«
    »Ich habe gehört, daß du selbst auch ganz hübsch her­umgebrüllt hast. Haben dir das die Schwestern beige­bracht?«
    »Die haben mir überhaupt nichts Vernünftiges beige­bracht.«
    Ganz plötzlich veränderte sich Iris; ihr Gesicht, ihre Hal­tung, alles veränderte sich. In einer erstaunlichen Ver­wandlung wurde sie wieder zum Kind.
    »Es tut mir leid«, wimmerte sie. »Es tut mir schrecklich leid, Mr. Wheeler. Ich wollte wirklich nichts Unrechtes tun.«
    Er starrte sie verwirrt an und wußte nicht, wie er diesen Persönlichkeitswandel verstehen sollte. Dann aber be­merkte er, daß sich hinter ihm die Tür geöffnet hatte und Tante Faith hereingekommen war.
    Iris sank aufs Bett und fing an zu schluchzen, und Tante Faith durchquerte mit vier langen Schritten den Raum und legte in mütterlichem Mitgefühl ihre rundlichen Arme um sie.
    »Aber, aber«, sagte sie mit weicher Stimme, »es ist ja alles gut, Iris. Ich weiß, du hast es nicht so gemeint, was du vorhin gesagt hast, es ist halt diese Gabe, die dich so sein läßt. Und denk nicht mehr an das, worum ich dich gebeten habe. Nimm dir Zeit mit Geraldine, so viel Zeit, wie du magst.«
    »Oh, ich möchte aber gern helfen!« sagte Iris eifrig. »Wirklich, Tante Faith.« Sie stand auf, und ihr Gesicht war voller Leben. »Ich kann deine Nichte hier im Haus spüren. Ich kann sie beinahe hören ... mir zuflüstern hören ... mir sagen, wo sie ist!«
    »Das kannst du?« sagte Tante Faith voller Ehrfurcht. »Wirklich und wahrhaftig?«
    »Beinahe, beinahe«, sagte Iris und drehte sich in einem unbeholfenen Tanz. Sie wirbelte vor einem Wandschrank herum und öffnete seine Tür; drinnen hingen noch ein hal­bes Dutzend Bügel mit Kleidern. »Das sind ihre Kleider. Oh, wie schön die sind! Sie muß wundervoll in ihnen aus­gesehen haben!«
    David schnaubte verächtlich. »Hat Iris je ein Foto von Geraldine gesehen?«
    Das Mädchen nahm ein Abendkleid aus Goldlame her­aus und umschlang es mit den Armen. »Ach, wie schön! Ich kann sie in diesem Kleid fühlen, ich kann sie direkt spüren!« Sie sah Tante Faith mit wilder Glückseligkeit an. »Ich weiß ganz einfach, daß ich imstande sein werde, euch zu helfen.«
    »Gott segne dich«, sagte Tante Faith. Ihre Augen waren feucht.
    Den restlichen Tag zeigte sich Iris von ihrer besten Seite; diese Stimmung hielt auch während des ganzen Abendes­sens an. Mit Ausnahme des Mädchens, war es für alle ein unbehagliches Mahl. Noch vor dem Kaffee bat Iris, auf­stehen zu dürfen, und ging nach oben.
    Als das Hausmädchen den Tisch abdeckte, gingen sie ins Wohnzimmer, und David sagte: »Tante Faith, ich halte das alles für einen schrecklichen Fehler.«
    »Fehler, David? Das mußt du mir erklären.«
    »Diese wohlerzogene Tour von Iris. Siehst du nicht, daß das nur Pose ist?«
    Die Frau wurde steif. »Du irrst dich. Du verstehst diese medial veranlagten Menschen einfach nicht. Nicht sie hat mir Kraftausdrücke an den Kopf geworfen, sondern das war dieser Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hat. Der­selbe Geist, der ihr die seherische Gabe verleiht.«
    Rowena lachte. »Nach der Sprache zu urteilen, ist es wahrscheinlich der Geist eines alten Seemanns. Ehrlich, Tante Faith, mir kommt sie wie ein ganz gewöhnliches kleines Mädchen vor.«
    »Ihr werdet ja sehen«, sagte Tante Faith störrisch. »War­tet mal ab, wie gewöhnlich sie wirklich ist.«
    Als wollte sie Tante Faiths Behauptung bestätigen, kam Iris zwanzig Minuten später herunter und trug Geraldine Wheelers Kleid aus Goldlame. Ihr Gesicht war mit einer Überdosis Make-up beschmiert und ihr strähniges Haar ungeschickt zu einer Hochfrisur aufgebunden, die sich weigerte,

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