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Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten.

Titel: Das Morden ist des Mörders Lust. Geschichten. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Licht abdun­kelte, und ging dann zu dem Stuhl hinüber, der dem von Iris gegenüberstand.
    Tante Faith sagte: »Bist du bereit, mein Kind?«
    Iris nickte. Ihre Lippen waren blutleer.
    David blickte ihr in die Augen, bevor sich diese in der einsetzenden Trance schlossen. Sie schienen seine unaus­gesprochene, klagende Frage zu erkennen, aber sie gaben nicht die Andeutung einer Antwort.
    Dann schwiegen alle. Hundertmal tickte die Uhr auf dem Kaminsims in diese Stille.
    Langsam fing Iris Lloyd an, sich im Stuhl hin und her zu wiegen, und ihre Lippen bewegten sich.
    »Es fängt an«, flüsterte Tante Faith. »Es fängt an …«
    Iris begann zu stöhnen. Sie gab gequälte Laute von sich, und ihr junger Körper wand sich in schmerzvoller Ekstase. Ihr Mund öffnete sich, und sie atmete schwer; Speichel schäumte in ihren Mundwinkeln und tropfte auf ihr Kinn.
    »Ihr müßt das beenden«, sagte David mit zitternder Stimme. »Das Mädchen hat einen Anfall.«
    Lieutenant Reese sah beunruhigt aus. »Mrs. Demerest, meinen Sie nicht …«
    »Bitte!« sagte Tante Faith. »Das ist nur die Trance. Du hast das doch schon erlebt, David, du weißt …«
    Iris schrie auf.
    Reese schnellte hoch. »Vielleicht hat Mr. Wheeler recht. Das Mädchen könnte sich etwas antun, Mrs. Demerest …«
    »Nein, nein! Sie müssen warten!«
    Dann stieß Iris einen Entsetzensschrei aus, der immer mehr anschwoll, so daß alles Glas im Raum in sympatheti­sche Schwingungen versetzt wurde und Rowena sich die Ohren zuhielt.
    »Tante Faith! Tante Faith!« schrie Iris. »Ich bin hier! Ich bin hier, Tante Faith, komm und finde mich. Hilf mir, Tante Faith, es ist dunkel! So dunkel! Oh, will mir denn niemand helfen?«
    »Wo bist du?« rief Tante Faith, und die Tränen strömten ihre Wangen herab. »Oh, Geraldine, mein armer Liebling, wo bist du?«
    »Ach, hilf mir! Hilf mir, bitte!« Iris krümmte und wand sich in ihrem Sessel. »Es ist so dunkel, ich habe solche Angst! Tante Faith! Hörst du mich? Kannst du mich hören?«
    »Wir hören dich! Wir hören dich, Liebling!« schluchzte Tante Faith. »Sag uns, wo du bist! Sag es uns!«
    Iris hob sich im Sessel hoch, schrie erneut auf und sank dann mit einem Weinkrampf zurück. Wenig später wurde sie ruhig, und ihre Augen öffneten sich langsam.
    David wollte zu ihr gehen, aber Lieutenant Reese trat dazwischen. »Einen Augenblick, Mr. Wheeler.«
    Reese ließ sich auf die Knie nieder und fühlte dem Mäd­chen den Puls. Mit der anderen Hand hob er das Licht ih­res rechten Auges und besah sich die Pupille. »Kannst du mich hören, Iris? Alles in Ordnung?«
    »Ja, Sir, alles in Ordnung.«
    »Weißt du, was gerade passiert ist?«
    »Ja, Sir, alles.«
    »Weißt du, wo Geraldine Wheeler ist?«
    Sie blickte auf den Kreis der Gesichter um sich herum und ließ den Blick dann auf dem Gesicht Davids ruhen.
    In seinen Augen stand eine flehentliche Bitte.
    »Ja«, flüsterte Iris.
    »Wo ist sie, Iris?«
    Ihr Gesichtsausdruck wurde abwesend. »Irgendwo weit weg. Ein Ort mit Schiffen. Die Sonne scheint dort. Ich sah Berge und grüne Bäume ... Ich hörte in den Straßen Glocken läuten …«
    Reese wandte sich zu den anderen um, um festzustellen, ob sie so verwirrt waren wie er.
    »Ein Ort mit Schiffen ... Sagt Ihnen das was?«
    Er erhielt keine Antwort.
    »Es ist eine Stadt«, sagte Iris. »Sie ist weit weg …«
    »Jenseits des Ozeans, Iris? Ist Geraldine da?«
    »Nein, nicht jenseits des Ozeans. Irgendwo hier in Ame­rika, wo es Schiffe gibt. Ich sah eine Bucht und eine Brücke und blaues Wasser …«
    »San Francisco!« sagte Rowena. »Ich bin sicher, sie meint San Francisco, Lieutenant.«
    »Iris«, sagte Reese streng, »du mußt dir deiner Sache wirklich sicher sein, wir können ja nicht das ganze Land absuchen. War es San Francisco? Hast du Geraldine da gesehen?«
    »Ja!« sagte Iris. »Jetzt weiß ich’s. Da waren Straßenbah­nen, komische Straßenbahnen, die bergauf fuhren ... Es ist San Francisco. Sie ist in San Francisco!«
    Reese erhob sich und kratzte sich im Nacken. »Nun, wer weiß?« sagte er. »Es ist jedenfalls die beste Vermutung, die ich bisher zu hören bekommen habe. Ist Geraldine vorher schon jemals in San Francisco gewesen?«
    »Nein, nie«, sagte Tante Faith. »Warum sollte sie dahin gefahren sein, David?«
    »Das weiß ich nicht«, grinste David. Er ging zu Iris hin­über und klopfte ihr auf die Schultern. »Aber Iris meint, daß sie da ist, und ich nehme an, daß die Geister wissen, wovon sie reden.

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