Das Mordhaus (German Edition)
Statur, aber seine Haare hatten die besten Jahre hinter sich und in seinen Augen – die leider von Aknenar ben umrandet waren – lag immer ein gewisser Witz. Ob es Ab sicht war oder nicht, Hermann konnte einem das Leben versü ßen.
Ich berichtete ihm in einer kurzen Zusammenfassung, was am heutigen Tag geschehen war und konzentrierte meine Erzählung auf den Blackout. Einige Augenblicke musterte er mich und rieb sich das Kinn.
Ich durchbrach die stumme Beobachtung. »Und? Was meinst du?«
Er hustete, nahm einen Schluck Bier und stützte seinen Kopf auf die Hände. »Vielleicht war es zu früh, dich diensttauglich zu schrei ben.«
Wenn er kein guter Freund von mir gewesen wäre, würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach heute in meiner Wohnung sitzen und mich sinnlos besaufen. Kein anderer Psychiater hätte mich zurück in den Dienst gelassen. Dafür war meine Psyche eigent lich noch zu kaputt. Ich hatte Hermann angefleht, meinem Chef weiszumachen, dass ich wieder arbeiten konnte und ihm gesagt, dass ich sonst erst recht vor die Hunde gehen würde. Er hatte schließlich eingewilligt. Allerdings nur unserer Freundschaft we gen, aus rein medizinischer Sicht hätte er es nicht getan.
»Ich muss arbeiten, Hermann. Wenn ich zu Hause bleibe, habe ich zu viel Zeit zum Nachdenken und werde erst recht krank.«
Er nickte. »Du wirst wissen, was du tust.« Das Glas Bier in sei ner Hand wurde mit einem Schluck geleert. Er besorgte sich ein neues.
Als er zurückkam, stellte ich ihm erneut meine Frage: »Was meinst du? Was hat der Blackout zu bedeuten?«
Hermanns Witz in den Augen erlosch und machte einem tiefen Mitgefühl Platz. »Weil du es noch nicht verarbeitet hast.« Er legte seine Hand auf meine. Seitdem ich ihn kannte, sah ich in ihm eine Art Bruderersatz. Er war klug und gewitzt. Seine inneren Werte gli chen seine äußerlichen Defizite zur Genüge aus.
»Ich versuche doch, es zu verarbeiten.« Ich löste meine Hand aus seinem Griff und breitete die Arme aus. »Was soll ich denn machen?«
Er beugte sich über den Tisch. »Du musst mit mir reden. Ohne Ge spräche wirst du den Unfall von Anke und Jenny nie verkraf ten. Du verdrängst alles. Und als du heute die Leichen von Mut ter und Tochter gesehen hast, hat dein Unterbewusstsein die Ver bindung zu dem Autounfall hergestellt und dich umgehauen.«
Ich blickte auf den Tisch. Dass ich die Sache noch nicht verkraf tet hatte, war mir klar. Ich dachte, die seelischen Schmerzen und das Stechen im Herz würden nach einiger Zeit schwächer wer den. Dass sie nie verschwinden würden, wusste ich. Dafür hatte ich meine Frau und meine Tochter zu sehr geliebt.
»Was schlägst du also vor?«, fragte ich.
»Wir erhöhen die Therapiesitzungen auf zweimal die Woche. Ein mal scheint nicht zu reichen. Und außerdem musst du mir endlich alles erzählen.«
Ich blickte ihn verständnislos an. »Ich habe dir alles erzählt! Von Anfang bis Ende.«
»Ich sehe in deinen Augen, dass es nicht der Wahrheit ent spricht. Ich glaube nicht, dass du mir absichtlich etwas ver schweigst. Dein Gehirn verdrängt es. Hat es in kleine Schubladen gepackt, in Zement gegossen und in den hintersten Winkel ver steckt. Das ist eine Schutzfunktion. Dein Unterbewusstsein schützt dich vor einem Schaden, den man so schnell nicht repa rieren kann.«
Darüber dachte ich eine Zeit lang nach. Hermann ging zu ei nem Spielautomaten, als er bemerkte, dass ich mich tief in mei nem Inne ren auf die Suche begab.
Ich konnte mich an den Tag erinnern, als sei es gestern gewe sen. Dabei war es ja schon sechs Monate her. Anke, Jenny und ich woll ten einen Großeinkauf in der Metro erledigen. Meine Frau hatte ein eigenes Modegeschäft und war dazu berechtigt, in dem Großmarkt einzukaufen. Wir hatten uns entschieden, mit beiden Autos zu fah ren, um nicht alles in eines quetschen zu müssen. Meiner Tochter Jenny versprach ich, dass sie sich für zwanzig Euro etwas kaufen dürfte. Andernfalls hätte ich sie gar nicht dazu bewegen können, uns zu begleiten. Sie war in einem schwierigen Alter: dreizehn Jahre. Die Pubertät hielt Einzug in ihr Leben. Anke und ich bekamen Tag für Tag die volle Breitseite ihrer verrücktspielenden Hormone zu spüren. Sie schrie uns an, verwendete Schimpfwörter, die ich noch nie gehört hatte, und hielt sich an keinerlei Regeln. Ich hatte keine große Hoffnung, dass unser gemeinsamer Ausflug in die Metro ein Zuckerschle cken werden würde.
»Sei doch froh, dass sie überhaupt mitkommt«,
Weitere Kostenlose Bücher