Das Mordkreuz
waren liebevoll gepflegt, wenngleich die Bepflanzung stellenweise verdorrt und neuen Blumen keine große Zukunft beschieden war. Schnell erreichte er die hintere Ecke des Friedhofs. Jenseits der Mauer fand er den Holunderbusch, der von den Jungen als Quelle der Erscheinung benannt worden war. Mit einem Satz war er auf dem Gemäuer. Von hier aus hatte er einen exzellenten Blick über das Gelände.
Der Bildstock lag rund fünfzig Meter entfernt. Dahinter zeigte sich der Graben des Wasserkanals. Er führte schon seit Wochen kein Wasser mehr. Nur wenn es regnete oder das Schmelzwasser des Winterschnees abfließen musste, fand er seine Bestimmung. In den übrigen Monaten war er nutzlos. Welch ein Irrsinn, ging es Heinlein durch den Kopf, dass in einem ausgetrockneten Graben ein Mensch sterben musste. Ein kleiner Steg, über den man das angrenzende Feld betreten konnte, war mit einer Betonröhre untermauert. Genau in dieser Ecke, zwischen Röhre und Grabenboden, hatte man den toten Jungen gefunden. Er lag kopfüber darin, die Beine ans Gesicht herangezogen. Hoffentlich war er beim Sturz bewusstlos geworden und erst dann an seinem Erbrochenen erstickt.
Was für ein hinterlistiger Gedanke, sagte sich Heinlein. Würde er genauso denken, wenn es sich bei dem mutmaßlichen Täter nicht um seinen Sohn handelte?
Er verscheuchte den widerlichen Gedanken sofort aus seinem Bewusstsein und sprang von der Mauer herunter. Der Holunderbusch war ähnlich in Mitleidenschaft gezogen wie die Natur um ihn herum. Nichts verbarg sich darin, dahinter oder daneben. Er war schlicht vertrocknet. Hatte sich jemand unter Umständen einen Scherz mit den Jungs erlaubt und einen dieser in Mode gekommenen Silvesterbrennstäbe entzündet, um die Illusion eines Geistes in der Nacht zu erzeugen? Für diese Überlegung fanden sich keine Hinweise. Nichts war verbrannt, angeschwärzt oder roch verdächtig. Das hier war ein ganz normaler Busch. Es fanden sich auch keine Schnüre oder Klammern, die eine Lampe hätten festhalten können. Die dünnen, strohigen Äste wären ohnehin bei der kleinsten Belastung gebrochen.
Was blieb noch? Wie konnte man eine helle Erscheinung, wie sie die Jungs beschrieben hatten, hier noch bewerkstelligt haben?
Auf die Frage fand Heinlein keine logische Antwort. Mehr noch: Was machte es überhaupt für einen Sinn, vier betrunkene Jugendliche mit einem derart derben Spaß zu erschrecken? Und wer könnte das getan haben? Einer der Anwohner? Er blickte sich um. Neben dem ersten Haus, dem Pfarrhaus, standen zwei weitere Häuser, deren Bewohner sich womöglich in ihrer Nachtruhe gestört gefühlt hatten.
Aber die Nachbarn waren alle befragt worden. Niemand wollte von dem Treiben jenseits der Friedhofsmauern etwas mitbekommen haben. Und schon gar nicht von der Erscheinung einer mysteriösen Weißen Frau.
Nahezu unbemerkt hatte sich ein Mann genähert, der sich für den zerstörten Bildstock interessierte. Ein knappes Grüß Gott brachte er über die Lippen, am Bildstock schüttelte er fassungslos den Kopf. Heinlein ging zu ihm hinüber.
«Was machen Sie hier?», fragte er ihn.
Der Mann blickte auf. «Meine Name ist Willibald Kremer. Ich bin von der Gemeinde beauftragt worden, den zerstörten Bildstock zu untersuchen.»
«Zu welchem Zweck?»
«Wegen der Restaurierung, sofern da überhaupt noch was zu machen ist.»
Er bückte sich und klaubte zwei Steinbrocken auf. Entsetzt schüttelte er den Kopf. «Über dreihundert Jahre hat der Bildstock gestanden. Kein Krieg und nicht einmal die Flurbereinigung haben ihm was anhaben können. Und jetzt? Alles zerstört, in nur einer Nacht. Haben Sie die schon geschnappt, die das verbrochen haben?»
Der Mann musste sein Auto mit dem Kripo-Aufkleber gesehen haben, dachte Heinlein. «Ja, aber wie es scheint, haben sie es nicht mutwillig getan.»
Kremer nickte, obwohl er nicht begeistert schien.«Ich hoffe, sie werden eines Tages verstehen, was sie getan haben.»
Auch wenn Heinlein an etwas anderes dachte, so stimmteer ihm zu. «Übermütige Jugendliche. Zu viel Alkohol bei der Hitze.»
«Wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen haben, sollten sie zu einem Jahr Heimatkunde verdonnert werden und anschließend den Bildhauern helfen, den Schaden zu beheben.»
Das war keine schlechte Idee. «Ich werde mit dem Richter sprechen», antwortete Heinlein mit einem bemühten Lächeln.
Es entging Kremer nicht. «Ich meine das ernst. Die heutige Jugend hat keine Ahnung mehr, welche Kultur die ihre ist.
Weitere Kostenlose Bücher