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Das Mordkreuz

Das Mordkreuz

Titel: Das Mordkreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
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Kontrolle waren ihnen fremd, und sie hatten keine Einwände gegen meine Studien, die ich nun ungehindert fortführen konnte. Besonders Clara, meine neue Mutter und spätere Gefährtin, suchte nach der gescheiterten Revolution und dem Fortleben des Establishments eine neue Aufgabe. Die neu erstarkte Frauenbewegung interessierte sie nicht. Massenbewegungen, gleich welcher Art, waren ihr zum Gräuel geworden. Sie suchte ihr Heil stattdessen in der Zuwendung nach innen, dort, wo die Wurzeln ihres Frauseins lagen. Sie fand Tamar, die Wilde Frau.
    Tamar war die Schwiegertochter Judas, des vierten Sohnes Jakobs. Sie war mit Er, Judas ältestem Sohn, verheiratet, der jedoch bald nach der Hochzeit ohne Nachkommen starb. Juda vermählte sie daraufhin mit seinem zweiten Sohn, Onan, damit dieser seinem verstorbenen Bruder Nachkommen verschaffe. Er aber verweigerte sich und ließ seinen
Samen zur Erde fallen und verderben
. Kurze Zeit darauf starb auch er, und Tamar blieb weiterhin kinderlos. Rechtlich hätte nun der jüngste Sohn, Schela, seinen Brüdern Nachkommen schaffen müssen, aber Juda zögerte die Vermählung hinaus, da er fürchtete, auch dieser könne ihm genommen werden. Tamar wollte dies nicht akzeptieren. Als Dirne verkleidet, verführtesie ihren Schwiegervater Juda und wurde von ihm schwanger.
    Tamar wurde für Clara zum Vorbild. Sie tat nicht das, was andere von ihr erwarteten, sondern was sie selbst wollte. Tamar richtete sich nicht nach den Normen der Gesellschaft, sondern lebte aus tieferen Schichten, aus ihrer Sehnsucht nach Fruchtbarkeit und Lebendigkeit. Sie erduldete nicht passiv, was ihr angetan wurde. Sie ergriff die Initiative und riskierte ihr Leben in einer von Männern regierten Gesellschaft. Tamar hatte den Mut, etwas zu tun, auf das nach dem damaligen Recht die Todesstrafe durch das Feuer stand. Sie war aus der ihr zugedachten Opferrolle ausgebrochen und hatte zu ihrer Individualität, der einer selbstbestimmten Frau, gefunden.
    Der Ehe meiner Eltern war aufgrund dieser neuen Entwicklung keine Zukunft beschert. Ein letzter Versuch sollte retten, was eigentlich schon verloren war. Aus Anlass meiner Volljährigkeit reisten wir nach Irland, in den Ort Dugart in der Grafschaft Mayo, nördlich von Galway. Es war der letzte Kompromiss, auf den wir uns nach zähem Ringen hatten einigen können. Dort in Dugart hatte Heinrich Böll sein Refugium unterhalten, dort sollte aus dem Alten das Neue erwachsen. Diese Reise sollte sich als Abenteuer ohne Wiederkehr erweisen.
    Der liebevoll gepflegte Citroën 2CV brachte uns nach Cherbourg, wo wir mit dem Schiff auf die sagenumwobene Insel übersetzten. Anstatt den direkten Weg in Richtung Galway zu nehmen, setzten Clara und ich unseren Wunsch durch, einen Abstecher in den Killarney-Nationalpark zu machen. Ricardo und meine kleine Schwester stimmten notgedrungen zu.
    Wir fanden ein nettes Bed & Breakfast in Kenmare, wo wir uns für die anstehende Reise durch den Nationalpark ausruhen konnten. Am nächsten Morgen ging es los. DerHimmel war bleischwer mit Wolken verhangen, und kein Sonnenstrahl vermochte dieses Hindernis zu überwinden. Dennoch waren wir guten Mutes. Die kurvenreiche Straße führte uns hinauf zu Moll’s Gap, einem Aussichtspunkt, der mir den schönsten Blick meines bisherigen Lebens bescherte. Eine raue, von Felsen durchfurchte Landschaft, deren grüne Hänge dem starken Wind trotzten. Die Wolken fuhren darüber hinweg, schenkten uns unerwartet Sonne, einen Schauer und schließlich einen Regenbogen, der sich bis ins Jenseits zu erstrecken schien. Von nun an waren alle Querelen wegen des Abstechers ausgeräumt. Erwartungsfroh steuerten wir ins Tal, geradewegs in den Nationalpark hinein. Schafe, die auf den niedrigen Straßenmauern den vorbeiziehenden Verkehr in aller Selbstverständlichkeit beobachteten, säumten unseren Weg.
    Als tauchten wir in eine andere, lang zurückliegende Zeit ein, so faszinierten uns diese einzigartigen Wälder. Unwirkliche Stille und ein fades Licht tauchten alles in eine einzigartige Stimmung.
    Diese ältesten noch verbliebenen Eichenwälder der Insel schluckten jede Erinnerung. Eiben, Moose, Flechten und Farne überzogen die Erde wie eine magische Formel, aus der es zischte, gurrte und rumorte. Dazwischen schlängelte sich ein Wasserlauf, auf den ersten Blick schwarz wie Kohle, auf den zweiten waren es die Steine in seinem Bett, die diese gespenstische Atmosphäre erschufen.
    Wir parkten den 2CV am Wegesrand und machten uns

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