Das Mordkreuz
auf Entdeckungsreise. Ricardo und meine Schwester gingen entlang der sicheren Straße, Clara und ich stapften querfeldein. Außer Sichtweite küssten wir uns an einer tosenden Biegung des Wassers. Ihr Kuss schmeckte zart und enthemmt, und schnell vergaßen wir jede Gefahr.
Im Dickicht der Farne hörte ich sie kommen, noch bevor ich sie sah. Ihr Weinen vermischte sich mit dem Rauschendes Wassers und dem schweren Atem meiner Geliebten. Ich schreckte auf, leichenblass und verstört. Sie bewegte sich auf uns zu, überquerte das Wasser trockenen Fußes und setzte sich in das Geäst eines Baumes. Sie führte einen Kamm durch ihr langes schneeweißes Haar, das ihre Augen verbarg.
Ich wusste, wenn sie mich ansah, wäre meine Zeit vorüber. Ich nahm Clara bei der Hand und brachte sie auf dem schnellsten Weg zurück zum Auto. Ein Schrei, und Clara wandte sich um. Ihr schien beim Anblick der roten Augen das Herz zu stocken. Aus ihrer Hand wich die vertraute Wärme.
Ricardo erwartete uns bereist sehnsüchtig. Meine kleine Schwester war auf der Rückbank eingeschlafen. Wir schwiegen über unser Erlebnis und fuhren weiter. Die Nacht verbrachten wir am Lough Lane, einem See, auf dessen Halbinsel ein weißes, verfallenes Kloster stand. In dieser Nacht fand ich keine Ruhe. Ich horchte zum Fenster hinaus, ob sich diese vergessen geglaubte Gestalt in meiner Nähe aufhielt.
Der Schreck stand Clara am nächsten Morgen noch immer im Gesicht. Ricardo musste etwas bemerkt haben und hatte sie zur Rede gestellt. Während sie sich unter vier Augen aussprechen wollten, kümmerte ich mich um meine kleine Schwester. Ihr durfte auf keinen Fall etwas zustoßen.
Ich sah Clara und Ricardo mit einem Ruderboot auf den See hinausfahren. Der Nebel verschluckte sie nach wenigen Metern.
Als sie am Abend noch immer nicht zurück in der Pension waren, wusste ich, dass wir sie nie wiedersehen würden.
17
Ein geöffnetes griechisches Lokal war rund um das neue Strafjustizgebäude in der Ottostraße nicht zu finden. Kilian hatte in der Not selbst die kleine Fressbude auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgesucht. Aber ein richtiger griechischer Café Frappé war nicht aufzutreiben. Entweder gab es nur Eiskaffee oder abgestandenen kalten Kaffee. Beides war zur Einstimmung auf einen neuen heißen Sommertag nicht geeignet.
Nun saß er im Archiv des Landgerichts vor einem Stapel Akten und sollte sich mit einer Kanne heißen Kaffees abfinden, der ihm liebenswürdigerweise auf den Tisch gestellt worden war. Aber wer trank schon an einem heißen Sommertag heißen Kaffee? Bestimmt nicht er.
Kilian machte sich auf den Weg. Irgendwo musste der Kaffee ja hergekommen sein. In dem neuen Strafjustizgebäude kannte er sich noch nicht aus, also musste er jemand fragen.
Eine Frau kam ihm entgegen. «Entschuldigen Sie, wo kann ich die Küche finden?»
«Den Gang runter, dritte Tür rechts.»
«Gibt es dort auch einen Kühlschrank?»
«Sicher.»
Er wurde nicht enttäuscht. Alle notwendigen Zutaten schienen vorhanden zu sein. Kaltes Wasser, Eiswürfel, Zucker und, am wichtigsten, Nescafé. Er nahm ein schmales Glas zur Hand, füllte reichlich Kaffeepulver hinein und gab einen Teelöffel Zucker hinzu. Oben drauf zwei Fingerbreit kaltes Wasser, und schon konnte es losgehen. Ein Mixer war nichtzur Hand, deshalb musste es auf die gute alte Weise gehen. Er nahm eine Serviette und eine Untertasse, setzte beides aufs Glas und schüttelte alles kräftig durch, bis die Masse aufgeschäumt war. Einmal kurz abschmecken und dann das Glas mit Eiswasser auffüllen. Zum Schluss noch einen Eiswürfel und einen Strohhalm hinein. Fertig.
Sein erstes Urteil: genau richtig. Zufrieden, fast schon glücklich machte er sich auf den Weg zurück ins Archiv.
Vor ihm stapelten sich die Akten der Verfahren, die Zinnhobel als Vorsitzender Richter und Mangel als Staatsanwalt betreut hatten. Heinlein hatte ihm am Abend zuvor noch von einem Gespräch mit Michael Imhof berichtet. Er sollte besonders auf Verfahren achten, bei denen Frauen eine Rolle gespielt hatten. Entweder als Opfer, Angeklagte oder Zeuginnen. Irgendwo vermutete er darin eine Spur.
Kilian machte sich an die Arbeit. Fall um Fall zog an seinem Auge vorbei. Es handelte sich mehrheitlich um Raub, Vergewaltigung und Tötungsdelikte. Frauen waren meist auf der Seite der Opfer, seltener unter den Tätern zu finden. Das Bild änderte sich jedoch, je weiter er in die jüngere Vergangenheit vordrang. Man konnte meinen, das
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