Das Moskau-Komplott
Nummer. Diesmal kam der Anruf nicht durch.
Sie packte zu Ende und schlich ins Zimmer ihrer Mutter. Das Geld war noch dort, wo sie es hingelegt hatte, in der untersten Schublade der Kommode, versteckt unter einem dicken Wollpullover. Sie schloss die Schublade geräuschlos und ging ins Wohnzimmer. Ihre Mutter sah sie an und versuchte zu lächeln. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen - sie hatten letzte Nacht alles gesagt - und keine Tränen mehr zu vergießen.
»Willst du noch einen Tee, bevor du gehst?«
»Nein, Mama. Ich habe keine Zeit mehr.«
»Dann geh«, sagte sie. »Und möge dir der Engel des Herrn über die Schulter sehen.«
Ein Leibwächter, ein ehemaliges Mitglied der Alpha-Gruppe namens Luka Osipow, erwartete Elena draußen auf dem Korridor. Er trug ihren Koffer nach unten und legte ihn in den Kofferraum der wartenden Limousine. Als der Wagen losfuhr, erklärte Elena in aller Ruhe, dass sie noch im »Haus an der Uferstraße« vorbeischauen und ein paar Unterlagen aus dem Büro ihres Mannes holen müsse. »Es wird nur ein paar Minuten dauern«, sagte sie. »Wir haben noch reichlich Zeit und sind rechtzeitig vor dem Abflug in Scheremetjewo.«
Während Elena Charkowas Limousine den Kutusowskij Prospekt hinunterfuhr, folgte ihr unauffällig ein zweiter Wagen. Am Steuer saß ein Mann namens Anton Uljanow. Ehemals Überwachungsspezialist im Staatsdienst, arbeitete er jetzt für Arkadij Medwedew, den Chef von Iwan Charkows privatem Sicherheitsdienst. Uljanow hatte für Medwedew schon unzählige, moralisch zumeist fragwürdige Aufträge übernommen, aber noch nie hatte er den Befehl erhalten, die Frau des Mannes zu beschatten, der sein Gehalt bezahlte. Warum er diesen Auftrag bekommen hatte, wusste er nicht, nur dass er wichtig war.
Folgen Sie ihr den ganzen Weg bis zum Flughafen,
hatte Medwedew gesagt.
Und verlieren Sie sie nicht aus den Augen. Sonst werden Sie sich wünschen, Sie wären nie geboren worden.
Uljanow folgte der Limousine in fünfzig Meter Abstand und schaltete Musik ein. Er hatte jetzt nichts weiter zu tun, als sich zurückzulehnen und eine langweilige Spazierfahrt zum Flughafen zu machen. Solche Jobs gefielen ihm am besten: die langweiligen. Die aufregenden, so pflegte er zu sagen, überließ er den Helden. Auf diese Weise lebe man länger.
Wie sich herausstellte, wurde die Fahrt jedoch weder lang noch langweilig. Sie endete bereits am Hotel Ukraina. Das andere Fahrzeug kam von rechts, allerdings musste Uljanow später zugeben, dass er es überhaupt nicht gesehen hatte. Erinnern konnte er sich wieder an den Moment des Zusammenpralls: eine schwere Kollision, bei der Stahl verbogen wurde, Glas splitterte und der Airbag in sein Gesicht prallte. Wie lange er bewusstlos war, konnte nie geklärt werden. Er schätzte, dass es nur wenige Sekunden waren, denn das Erste, woran er sich nach dem Aufwachen erinnerte, war der Anblick eines gut gekleideten Herrn, der in einer ihm unverständlichen Sprache durch ein geborstenes Fenster brüllte.
Anton Uljanow versuchte nicht, sich mit dem Mann zu verständigen. Stattdessen tastete er verzweifelt nach seinem Handy. Er fand es einen Moment später, eingeklemmt zwischen dem Beifahrersitz und der verbeulten Tür. Der erste Anruf, den er tätigte, galt Arkadij Medwedews Wohnung auf den Spatzenhügeln.
Nach seinem Eintreffen auf dem Flughafen von Nizza wurde Iwan Charkow in einen fensterlosen Besprechungsraum mit einem rechteckigen Tisch und Fotografien französischer Flugzeuge an der Wand geführt. Francois Boisson, der Mann, der ihn herbestellt hatte, war nirgends zu sehen, und es verstrichen geschlagene dreißig Minuten, bis er endlich erschien. Er war ein schlanker Mittfünfziger mit kleiner Brille und Glatze, der, wie alle französischen Beamten, etwas gönnerhaft Herablassendes an sich hatte. Ohne jede Erklärung oder Entschuldigung für seine Verspätung legte er eine dicke Akte ans Kopfende des Tisches und setzte sich dahinter. So blieb er, die Fingerspitzen nachdenklich aneinandergelegt, irritierend lange sitzen, ehe er endlich zur Sache kam.
»Als Ihrem Flugzeug vor zwei Tagen hier auf diesem Flughafen die Starterlaubnis verweigert worden ist, haben wir begonnen, Ihre Flugaufzeichnungen und Passagierlisten einer genauen Prüfung zu unterziehen. Bedauerlicherweise sind wir dabei auf einige Unstimmigkeiten gestoßen.«
»Was für Unstimmigkeiten?«
»Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Sie, Monsieur Charkow, mit Ihrem Flugzeug illegal
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