Das Moskau-Komplott
erledigen, bevor ich Iwan verlasse. Ich muss mich und die Kinder schützen.«
»Du hast doch nicht etwa die Absicht, ihm Geld wegzunehmen?«
»Mit Geld hat es nichts zu tun.«
Ihre Mutter bohrte nicht weiter nach. Sie war die Frau eines Parteifunktionärs. Sie wusste, dass es Geheimnisse und Mauern gab.
»Wann willst du es ihm sagen?«
»Morgen Abend.« Elena hielt inne, dann fügte sie spitz hinzu: »Wenn ich nach Frankreich zurückfliege.«
»Dein Mann ist nicht gerade jemand, der schlechte Neuigkeiten gut aufnimmt.«
»Das weiß niemand besser als ich.«
»Wohin willst du gehen?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Willst du in Westeuropa bleiben, oder kommst du nach Russland zurück?«
»In Russland wäre ich vielleicht nicht mehr sicher.«
»Was soll das heißen?«
»Möglicherweise muss ich die Kinder irgendwo hinbringen, wo Iwan sie nicht findet. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Die Parteifunktionärsfrau verstand vollkommen. »Dann werde ich dich also nie wiedersehen, Elena? Ich werde meine Enkel nie wiedersehen?«
»Es könnte einige Zeit dauern. Aber du wirst sie wiedersehen können, bestimmt.«
»Zeit? Wie viel Zeit? Sieh mich an, Elena. Mir bleibt nicht mehr sehr viel Zeit.«
»Ich habe etwas Geld in die unterste Schublade der Kommode gelegt. Es ist alles, was ich im Moment habe.«
»Dann kann ich es nicht annehmen.«
»Vertrau mir, Mama. Du musst das Geld nehmen.«
Ihre Mutter senkte den Blick und versuchte zu essen, doch auch sie hatte keinen Appetit mehr. Und so saßen sie lange da und hielten einander über den Tisch hinweg an den Händen, die Gesichter tränenfeucht. Schließlich nahm ihre Mutter den Brief und hielt ihn an die Kerzenflamme. Elena blickte zum Fernseher und sah, wie Russlands neuer Zar die Huldigungen der Menge entgegennahm.
Wir können nicht wie normale Menschen leben,
dachte sie.
Und wir werden es auch in Zukunft nie können.
Wider bessere Einsicht und unter Verletzung aller operativen Grundsätze, geschriebener wie ungeschriebener, kehrte Gabriel nicht sofort in sein Zimmer im Hotel Ritz-Carlton zurück. Stattdessen wanderte er weiter nach Süden zu den Wohnhäusern, die den Oktoberplatz überragten, und lenkte seine Schritte zu dem Gebäude, das den Einheimischen unter dem Namen »House of Dogs« bekannt war. Es bot keinen Ausblick auf die Moskwa oder den Kreml, sondern nur auf seinen identischen Nachbarn, einen Parkplatz, der voller schäbiger kleiner Autos stand, und den Gartenring, über den - ein Euphemismus, wie er im Buche steht - Tag und Nacht der Verkehr donnerte. Ein beißender Wind blies von Norden und erinnerte daran, dass der russische »Sommer« gekommen und wieder gegangen war und dass es bald erneut Winter wurde. Der Poet in ihm fand dies passend. Vielleicht, so dachte er, hatte es nie einen Sommer gegeben. Vielleicht war er nur eine Illusion gewesen, wie der Traum von einer russischen Demokratie.
In dem kleinen Hof vor Eingang C hatten die Babuschkas und die Skateboard-Punks offenbar einen Waffenstillstand geschlossen. Sechs hagere, junge Milizionäre lungerten in der Tür, beaufsichtigt von zwei zivilen FSB-Schergen in Lederjacken. Die westlichen Journalisten, die sich nach dem Mordanschlag auf Olga Suchowa vor dem Gebäude versammelt hatten, hatten ihre Wache abgebrochen oder waren, was wahrscheinlicher war, vertrieben worden. Es deutete nichts darauf hin, dass Olga irgendwelche Unterstützung erfuhr, nur drei verzweifelte Worte, die mit roter Farbe an die Hauswand gesprüht waren: FREIHEIT FÜR OLGA! Irgendein Witzbold hatte FREIHEIT FÜR durchgestrichen und FUCK darüber geschrieben. Wer wollte da behaupten, die Russen hätten keinen Sinn für Humor?
Gabriel drehte eine Runde um das riesige Gebäude. Wie erwartet, waren auch die fünf anderen Eingänge bewacht. Er wandte sich nach Norden in Richtung Leninskij Prospekt und ging im Kopf ein letztes Mal das Unternehmen durch. Alles war perfekt geplant, dachte er. Mit einer Ausnahme. Wenn Iwan Charkow entdeckte, dass man ihm seine Familie und seine geheimen Unterlagen gestohlen hatte, würde er seine Wut an jemandem auslassen. Und dieser Jemand würde wahrscheinlich Olga Suchowa sein.
56 Saint-Tropez – Moskau
Die Demontage Iwan Borisowitsch Charkows, Baulöwe, Risikokapitalgeber und internationaler Waffenhändler, begann mit einem Telefonanruf, den er in seinem Haus in Saint-Tropez erhielt. Der Anrufer war ein gewisser Francois Boisson, Regionalleiter der Direction
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