Das Moskau-Komplott
die Sicht. Schmuel Peled hatte recht gehabt, was den Wolga anging - für eine zwanzig Jahre alte Schrottkarre aus sowjetischer Produktion lief er ganz passabel -, aber mit der deutschen Edelkarosse konnte er sich natürlich nicht messen. Bei 130 km/h stieß er an seine Grenzen, protestierte lautstark und zog nach rechts. Seine kleinen Scheibenwischer waren nutzlos gegen den heftigen Regen und das Sprühwasser der Vorausfahrenden, und die Lüftung produzierte wenig mehr als einen warmen Hauch, sodass die Windschutzscheibe beschlug. Um überhaupt etwas sehen zu können, musste Gabriel die beiden vorderen Seitenfenster herunterkurbeln, damit ein Durchzug entstand. Jeder vorbeiziehende Lastwagen spritzte Wasser in seine linke Gesichtshälfte.
Der Regen ließ nach, und am Horizont blinzelten schüchtern ein paar Sonnenstrahlen durch ein Wolkenloch. Gabriel hielt das Gaspedal durchgedrückt und heftete seinen Blick an die Rücklichter des Mercedes. Doch seine Gedanken waren bei dem Bild, das sich ihm vorhin vor dem »Haus an der Uferstraße« geboten hatte.
Wie hatte er das geschafft?
Wie hatte Arkadij sie dazu gebracht, sich widerstandslos zum Wagen führen zu lassen und einzusteigen? Mit einer Drohung? Oder mit einem Versprechen? Mit der Wahrheit oder mit einer Lüge, oder einer Mischung aus beidem? Und warum fuhren sie jetzt auf dem Leninskij Prospekt hinaus in die gähnenden Abgründe der russischen Provinz?
Gabriel sann noch über diese letzte Frage nach, als er spürte, wie etwas von hinten seine Stoßstange rammte: ein Wägen, viel größer und schneller als seiner, mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag, doch aus dem Wolga war nicht mehr herauszuholen. Der Wagen hinter ihm gab ihm noch einen leichten Stups, wie zur Warnung, und setzte dann zum Todesstoß an.
Was folgte, war ein klassisches Manöver, das jeder gute Verkehrspolizist kennt. Der Angreifer nimmt Kontakt mit dem Opfer auf, rechte vordere Stoßstange an linke hintere Stoßstange. Dann beschleunigt er scharf, und das Opfer verliert die Gewalt über seinen Wagen. Die Wirkung einer solchen Taktik ist noch durchschlagender, wenn ein krasses Missverhältnis in Sachen Gewicht und Pferdestärken besteht - wenn beispielsweise ein Mercedes-Benz S-Klasse auf einen klapprigen alten Wolga trifft, der noch dazu am oberen Limit seiner Belastbarkeit fahrt. Wie oft er sich um die eigene Achse drehte, wusste Gabriel nicht mehr. Er wusste nur, dass der Wolga, als es vorbei war, mitten im Schlamm auf einem Feld am Rand eines Kiefernwaldes auf der Seite lag und er selbst stark aus der Nase blutete.
Zwei von Arkadijs Bestien kamen durch den Schlamm gestapft, um ihn dort herauszuholen, allerdings waren ihre Motive nicht altruistischer Natur. Einer war ein glatzköpfiger Riese mit einer Rechten wie ein Vorschlaghammer. Der Hammer traf Gabriel nur einmal, denn einmal genügte. Er stürzte rücklings in den Schlamm, und einen Moment lang sah er auf dem Kopf stehende Kiefern. Dann flogen die Bäume himmelwärts in die Wolken wie Raketen. Und Gabriel wurde ohnmächtig.
Zur gleichen Zeit gewann El-Al-Flug 1612 über den Moskauer Vororten rapide an Höhe und legte sich in eine scharfe Kurve nach Süden. Uzi Navot saß, ein Glas Whiskey in der Hand, in der letzten Reihe der ersten Klasse am Fenster und suchte mit den Augen den riesigen Teppich aus blinkenden gelben Lichtern unter sich ab. Ein paar Sekunden lang konnte er alles deutlich sehen: die Ringstraße um den Kreml, den gewundenen Flusslauf, die Ausfallstraßen, die wie Speichen in die endlosen Weiten Russlands hinausragen. Dann tauchte das Flugzeug in die Wolken ein, und die Lichter Moskaus verschwanden. Navot zog sein Rollo herunter und führte das Glas an die Lippen.
Ich hätte ihm den Arm brechen sollen,
dachte er.
Ich hätte dem Blödmann den Arm brechen sollen.
Gabriel öffnete langsam die Augen.
Nicht die Augen,
dachte er.
Ein Auge.
Das linke. Das rechte Auge gehorchte nicht. Das rechte war das Auge, das der Hieb des glatzköpfigen Riesen getroffen hatte. Jetzt war es zugeschwollen und mit getrocknetem Blut verklebt.
Bevor er den Versuch unternahm, sich zu bewegen, machte er sich ein Bild von seiner Lage. Er lag auf einem Betonfußboden, in einer Art Lagerhalle. Seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, und seine Beine befanden sich in einer Art Rennstellung, das rechte zur Brust hin angezogen, das linke nach hinten weggestreckt. Seine rechte Schulter
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