Das Moskau-Komplott
intellektuell. Wir sind nicht wie Sie, Gabriel. Wir wollen keine Querdenker im Geheimdienst.«
»Und dann wundert ihr euch, dass eure besten Agenten jetzt für Privatfirmen arbeiten?«
»Ersparen Sie mir Ihre Kritik, Gabriel. Wollen Sie sie nun haben, ja oder nein?«
»Das weiß ich erst, wenn ich mit ihr gesprochen habe.«
»Sie kommt gegen Mittag zum Dienst in die Zentrale.«
»Langley?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Ich möchte sie irgendwo treffen, wo die Agency nicht mithört.«
»Das schränkt die Möglichkeiten deutlich ein.« Carter gab sich den Anschein, als denke er angestrengt nach. »Wie wär's mit Dumbarton Oaks? In den Gärten, heute Mittag.«
»Aber sorgen Sie dafür, dass sie alleine kommt.«
Carter lächelte traurig. »Vielen Dank, Gabriel. Sie geht nie irgendwo alleine hin. Und wahrscheinlich wird sie das auch nie wieder tun.«
26 Dumbarton Oaks, Georgetown
Am späten Vormittag gelang es der Sonne, den Dunstschleier zu durchdringen, und als Gabriel sich am Eingang von Dumbarton Oaks einfand, war es bereits drückend heiß. Er löste bei einem Mann in einem Kassenhäuschen eine Eintrittskarte und bekam eine Hochglanzbroschüre überreicht. Er las interessiert darin, während er an kunstvollen Lauben, Spalieren und Zierteichen vorbeischlenderte. Ein paar Minuten nach zwölf lenkte er seine Schritte in eine entlegene Ecke der Gartenanlage, wo eine attraktive Frau Anfang dreißig steif auf einer Holzbank saß, ein aufgeschlagenes Taschenbuch auf dem Schoß, Maiglöckchen zu ihren Füßen. Sie trug ein einfaches, ärmelloses Baumwollkleid und Sandalen. Ihr blondes Haar war gewachsen, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihre Alabasterhaut rötete sich bereits in der prallen Sonne. Sie schaute abrupt auf, als Gabriel näher kam, doch ihr Gesicht blieb seltsam ausdruckslos, als sei es von Mary Cassatt gemalt.
»Hast du Adrians Aufpasser bemerkt?«, fragte Sarah Bancroft.
Er küsste sie auf die Wange und führte sie in den Schatten einer nahen Pergola. »Selbst ein kurzsichtiger Praktikant frisch von der Akademie hätte Adrians Aufpasser entdecken können.«
»Lass hören.«
»Frau mit Sonnenhut, Mann mit karierten Bermuda-Shorts, das Paar mit >I love New York< auf den T-Shirts.«
»Ausgezeichnet. Aber die beiden Jungs in dem dunklen Wagen in der R Street sind dir entgangen.«
»Mitnichten. Sie hätten mir ebenso gut zuwinken können, als ich hereinkam.«
Sie setzten sich, doch selbst im Schatten war die schwüle Hitze kaum zu ertragen. Sarah schob sich ihre Sonnenbrille ins Haar und wischte sich ein Rinnsal Schweiß von der Wange. Gabriel betrachtete sie im Profil, während ihre Augen ruhelos den Garten absuchten. Als Tochter eines wohlhabenden Citibank-Managers hatte Sarah Bancroft einen Großteil ihrer Kindheit in Europa verbracht, wo sie eine kontinentale Erziehung genossen, mehrere kontinentale Sprachen erlernt und sich tadellose kontinentale Manieren angeeignet hatte. Sie war nach Amerika zurückgekehrt, um das Dartmouth College zu besuchen, und später erwarb sie, nachdem sie ein Jahr lang am renommierten Courtauld Institute of Art in London studiert hatte, als jüngste Frau aller Zeiten in Harvard den Doktorgrad in Kunstgeschichte. Kurz vor Vollendung ihrer Dissertation ging sie eine Beziehung mit einem jungen Anwalt namens Ben Callahan ein, der das Pech hatte, am Morgen des 11. September 2001 in die Maschine des United-Airlines-Flugs 175 zu steigen. Es gelang ihm noch, einen Anruf zu tätigen, ehe das Flugzeug in den Südturm des World Trade Centers raste. Dieser Anruf galt Sarah. Gabriel hatte ihr die Chance gegeben, die ihr Langley verweigert hatte: sich an den Mördern zu rächen. Mit dem Segen Carters und mithilfe eines unbekannten van Gogh hatte er sie in den Kreis um den saudiarabischen Milliardär Zizi al-Bakari eingeschleust mit dem Auftrag, den dort versteckten terroristischen Drahtzieher ausfindig zu machen. Sie hatte nur mit Glück überlebt. Seitdem war ihr Leben nicht mehr dasselbe.
»Ich hatte Angst, dass du nicht kommst«, sagte er.
»Wie kommst du darauf? Weil ich mitten in einem schwierigen Unternehmen den schrecklich unprofessionellen Fehler begangen habe, dir meine wahren Gefühle für dich zu gestehen?«
»Das war nur ein Grund.«
»Da kann ich dich beruhigen, Gabriel. Ich bin drüber weg.« Sie sah ihn an und lächelte. »Bilde ich es mir nur ein, oder bist du darüber ein wenig enttäuscht?«
»Nein, Sarah, ich bin nicht
Weitere Kostenlose Bücher