Das Moskau-Komplott
dessen gefährlichste Tätigkeit mittlerweile darin bestand, eigenhändig die Tintenpatronen seines Füllers zu wechseln, zeigte sich entsprechend beeindruckt.
»Alle Achtung, Sie kommen wirklich weit herum. Und wenn man bedenkt, dass Sie das alles mit nur drei Leichen geschafft haben. Das ist schon eine Leistung für Sie.« Seymour blies nachdenklich in seinen Tee. »Und was schlagen Sie vor? Wollen Sie Elena Charkowa zur Seite nehmen und mit ihr in aller Zweisamkeit über die Geschäfte ihres Mannes sprechen? Das ist leichter gesagt als getan, fürchte ich. Elena setzt keinen Fuß vor die Tür ihres Hauses in Knightsbridge ohne ein Großaufgebot an Leibwächtern, und mit denen ist nicht zu spaßen. Niemand spricht mit Elena, ohne vorher mit Iwan zu sprechen.«
»Das stimmt nicht ganz. Es gibt durchaus jemanden in London, mit dem sie regelmäßig spricht - und im Hinblick auf den Ernst der Lage wäre dieser Jemand unter Umständen bereit, uns zu helfen.«
»Britischer Staatsbürger, nehme ich an?«
»Ganz recht.«
»Hat er einen anständigen Beruf?« »Wie man's nimmt. Er ist Kunsthändler.« »Wo arbeitet er?« Gabriel sagte es ihm.
»Ach herrje! Das könnte etwas heikel werden.«
»Deswegen bin ich hier, Graham. Wir würden nicht im Traum daran denken, in London etwas zu unternehmen, ohne Sie vorher zu fragen.«
»Verschonen Sie mich.«
»Ich finde, wir sollten ihm auf den Zahn fühlen, bevor wir an ihn herantreten. Im Kunstbetrieb wimmelt es von zwielichtigen Figuren. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Wir?
Nichts da, Gabriel,
Sie
werden schön von ihm wegbleiben. Der Security Service wird diese Angelegenheit übernehmen, mit äußerster Diskretion und nur mit der offiziellen Genehmigung des Innenministeriums.«
»Wann können Sie anfangen?«
»Zweiundsiebzig Stunden dürften genügen«, sagte Seymour und fügte hinzu: »Bis zum Mittagessen setze ich einen Mann auf ihn an. Ich schlage vor, wir treffen uns einmal am Tag, um die Observationsberichte durchzugehen.«
»Einverstanden.«
»Wir können uns hier treffen, wenn Sie wollen.« »Sie machen wohl Witze.« »Dann entscheiden Sie.«
»St. James's Park. Sechs Uhr. Die Bänke auf der Nordseite von Duck Island.«
Graham Seymour legte die Stirn in Falten. »Ich bringe die Brotkrumen mit.«
28 London
Als alles vorbei war und die Archivare und Analytiker eines Dutzends verschiedener Nachrichten- und Geheimdienste das Unternehmen später aufarbeiteten, wunderten sich alle darüber, dass Gabriels vorrangige Zielperson in diesen ersten, ereignisarmen Tagen des Unternehmens weder Iwan Charkow noch seine schöne Frau Elena war, sondern Alistair Leach, Direktor der Abteilung für impressionistische und moderne Kunst des ehrwürdigen Auktionshauses Christie's in der King Street 8, St. James's, London. Sie hatten keine Freude daran, denn er war ein guter und anständiger Mensch, der ohne eigenes Verschulden und nur aufgrund seiner zufälligen Nähe zum Bösen in die Sache verwickelt wurde. Adrian Carter bezeichnete seinen Fall später »als warnendes Beispiel für uns alle«. Wenige Leben sind ganz frei von Sünde, und noch weniger halten einer genauen Überprüfung mit Telefonüberwachung und Rund-um-die-Uhr-Observation des MI5 stand. So etwas, pflegte Carter zu sagen, hätte jedem von uns passieren können.
Jeder Geheimdienstagent, der noch einen Funken Gewissen hat, weiß, dass es eine beunruhigende Erfahrung sein kann, die Schubladen eines Menschenlebens zu durchwühlen, und Seymour, der mehr Skrupel hatte als die meisten, wachte darüber, dass es so behutsam wie möglich geschah. Seine Abhörspezialisten lauschten Leachs Telefongesprächen mit gnädigem Ohr, seine Beschatter folgten der Zielperson in respektvollem Abstand, und seine Schnüffler arbeiteten sich mit äußerstem Feingefühl durch Leachs Telefonlisten, Kontoauszüge und Kreditkartenabrechnungen. Bauchgrimmen verursachten ihnen nur die Abhörgeräte, die man auf Gabriels Drängen in Leachs Wohnung in Kentish Town angebracht hatte. Schon nach kurzer Zeit enthüllten die Wanzen, warum Leach dort so wenig Zeit zubrachte. Die Lauscher nannten seine Frau Abigail nur noch »das Biest«.
Ohne Wissen Graham Seymours und des MI5 hatte Gabriel während dieser Phase des Unternehmens in aller Stille in einer sicheren Wohnung des Dienstes an der Bayswater Road Quartier bezogen. Er nutzte die ruhigen Tage, um Schlaf nachzuholen und seinen geschundenen Körper zu kurieren. Er blieb morgens
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