Das Moskau-Komplott
lange im Bett, gewöhnlich bis neun oder zehn, und vertrödelte den restlichen Vormittag mit Kaffeetrinken und Zeitunglesen. Nach dem Mittagessen verließ er die Wohnung und unternahm lange Spaziergänge durch die Londoner Innenstadt. Obwohl er regelmäßig seine Route änderte, lief er jeden Tag dieselben drei Punkte an: die israelische Botschaft am Old Court Place, die amerikanische Botschaft an Grosvenor Square und Duck Island im St. James's Park. An den ersten beiden Abenden erschien Graham Seymour pünktlich um sechs Uhr, doch am dritten kam er eine Dreiviertelstunde zu spät und brummte etwas von wegen, sein Generaldirektor sei verärgert. Er öffnete seinen Edelstahl-Koffer und reichte Gabriel ein Foto. Es zeigte Alistair Leach, wie er mit einer altjüngferlichen Frau an seiner Seite die Piccadilly Street entlangschlenderte.
»Wer ist sie?«
»Rosemary Gibbons. Sie arbeitet in der Abteilung für Alte Meister bei Sotheby's. Aus verständlichen Gründen, privaten wie beruflichen, halten sie ihre Beziehung streng geheim. Soweit wir feststellen konnten, ist sie rein platonisch. Offen gestanden, drücken meine Überwacher dem armen Alistair die Daumen, dass er bald den nächsten Schritt tut. Abigail ist ein wahrer Drachen, und seine beiden Kinder können seinen Anblick nicht ertragen.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Die Frau und die Kinder?«
»Leach und Rosemary«, erwiderte Gabriel ungeduldig.
»In einem kleinen Weinlokal in der Jermyn Street. Ruhiger Tisch in einer abgeschiedenen Ecke. Sehr gemütlich.«
»Sie besorgen mir ein Foto, Graham, ja? Damit ich etwas in der Hinterhand habe, falls er auf stur schaltet.«
Seymour fuhr sich mit der Hand durch das graue Haar, dann nickte er.
»Morgen würde ich ihn gerne ansprechen«, sagte Gabriel. »Wie sieht sein Programm aus?«
»Den ganzen Vormittag Termine bei Christie's, anschließend geht er zum Treffen eines Vereins, der sich Raffael-Club nennt. Wir haben einen Rechercheur darangesetzt.«
»Sie können Ihren Rechercheur zurückpfeifen, Graham. Ich kann Ihnen versichern, dass die Mitglieder des Raffael-Clubs für niemanden eine Bedrohung darstellen außer für sich selbst.«
»Was sind das für Leute?«
»Kunsthändler, Auktionatoren und Kuratoren, die sich einmal im Monat treffen. Sie tun nichts Subversiveres, als zu viel Wein zu trinken und die Wechselfälle ihrer Branche zu beklagen.«
»Sollen wir es vor oder nach dem Treffen machen?«
»Danach, Graham. Auf jeden Fall danach.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo und wann diese Gentlemen zusammenkommen?«
»In Green's Restaurant. Ein Uhr.«
29 St. James's, London
Kurz vor eins am folgenden Nachmittag trudelten die Mitglieder des wenig bekannten, aber viel geschmähten Raffael-Clubs nach und nach in den entzückenden Räumlichkeiten von Green's Restaurant Oister Bar in der Duke Street, St. James's, ein. Oliver Dimbleby, ein lüsterner Kunsthändler aus der Bury Street, war der Erste. Wie immer trank er allein an der Bar ein oder zwei Gin, um in Stimmung zu kommen. Als Nächster traf der pingelige Roddy Hutchinson ein, dann Jeremy Crabbe, der burschikose Direktor der Abteilung für Alte Meister bei Bonhams. Ein paar Minuten später folgten zwei Kuratoren, der eine von der Tate und der andere von der National Gallery. Schließlich, Punkt eins, wankte Julian lsherwood, Gründer und Seele des Raffael-Clubs, die Eingangstreppe herauf. Wie immer sah er verkatert aus.
Um 13.20 Uhr war der Ehrengast - jedenfalls aus der Sicht Gabriels und Graham Seymours, die auf der anderen Straßenseite in einem Überwachungswagen des MI5 saßen - noch immer nicht da. Seymour rief die Ml5-Lauscher an und erkundigte sich, ob Leach jüngst mit seinem Dienstapparat oder seinem Handy telefoniert habe. »Er spricht gerade mit dem Biest«, antwortete der Lauscher. »Sie gibt ihm eine Liste mit Besorgungen durch, die er nach der Arbeit auf dem Nachhauseweg zu erledigen hat.« Um 13.32 Uhr rief der Lauscher zurück und teilte mit, dass Leachs Leitung jetzt inaktiv sei, und um 13.34 Uhr meldete ein Überwachungsteam in der King Street, dass er Christie's soeben »in einem Zustand höchster Erregung« verlassen habe. Gabriel entdeckte ihn, als er um die Ecke bog, eine spindeldürre Gestalt mit rosigen Flecken auf den Wangen und zwei drahtigen Haarbüscheln über den Ohren, die beim Gehen wie graue Flügel flatterten. Wenig später gab das Team im Green's selbst durch, dass Leach sich zu der Runde gesellt habe und dass jetzt der
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