Das Moskau-Komplott
auf Elenas langen Rücken. Elena hielt die Postkarte noch in der Hand. Sie betrachtete sie mit einem Ausdruck verhaltener Neugier, wie im Übrigen auch Oleg, ihr Chef-Leibwächter. Sie legte die Karte auf das Tischtuch, drehte sich langsam in den Raum und sah sich um. Zweimal glitt ihr Blick ohne ein sichtbares Zeichen des Erkennens über Sarah hinweg. Elena Charkowa war ein Kind Leningrads, dachte Sarah. Ein Kind der Partei. Sie wusste, wie man vor einem Treffen einen Raum nach Beobachtern absuchte. Sie wusste, wie nach den Moskauer Regeln gespielt wurde.
Beim dritten Mal schließlich blieb ihr Blick an Sarahs Gesicht haften. Sie hob theatralisch die Karte in die Höhe und öffnete weit den Mund, als sei sie völlig überrascht. Ihr Lächeln war gezwungen und erstrahlte in einem künstlichen Licht, doch ihren Leibwächtern blieb das verborgen. Bevor sie reagieren konnten, war Elena plötzlich auf den Beinen und eilte, mit wiegenden Hüften die dicht besetzten Tische umkurvend, sodass der weiße Rock um ihre sonnengebräunten Schenkel flatterte, durch den Raum. Sarah stand auf, um sie zu begrüßen. Elena küsste sie förmlich auf beide Wangen und drückte ihr den Mund ans Ohr. Ans rechte, wie Sarah auffiel. An das Ohr, das die Leibwächter nicht sehen konnten. »Ich fasse es nicht, Sie sind es wirklich! Was für eine angenehme Überraschung!« Und mit einer ruhigen Stimme, die Sarah einen dumpfen Schmerz in der Magengegend verursachte: »Sie werden doch vorsichtig sein, nicht wahr? Mein Mann ist sehr gefährlich.«
Elena entließ Sarah aus ihrer Umarmung und blickte zu Michail, der sich erhoben hatte und schweigend neben seinem Stuhl stand. Sie nahm ihn prüfend in Augenschein wie ein Gemälde, das auf einer Ausstellungsstaffelei stand, dann streckte sie ihm eine juwelenbesetzte Hand hin.
»Das ist Michael Danilow«, stellte Sarah vor. »Ein sehr guter Freund von mir. Michael und ich arbeiten im selben Büro in Washington. Wenn ein Kollege dahinterkäme, dass wir zusammen hier sind, gäbe es einen furchtbaren Skandal.«
»Dann teilen wir also ein weiteres Geheimnis? Wie das Versteck für den Kinderzimmerschlüssel?« Sie hielt noch immer Michails Hand fest. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Michael.«
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Charkowa. Ich bewundere den Erfolg Ihres Mannes schon seit geraumer Zeit. Als Sarah mir erzählte, dass sie Ihre Bekanntschaft gemacht hat, war ich sehr neidisch.«
Elenas Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an, als sie seinen Akzent hörte. Es war gespielt, dachte Sarah, genau wie ihr Lächeln vorhin. »Sie sind Russe«, sagte sie, nicht als Frage, sondern als Feststellung.
»Mittlerweile bin ich amerikanischer Staatsbürger, aber ja, ich bin in Moskau geboren. Meine Familie ist kurz nach dem Fall des Kommunismus in die Staaten ausgewandert.«
»Wie faszinierend.« Elena blickte zu Sarah. »Sie haben mir gar nicht erzählt, dass Sie einen russischen Freund haben.«
»Das gehört zu den persönlichen Dingen, die man bei einem Geschäftsabschluss nicht unbedingt gleich erzählt. Außerdem ist Michael mein heimlicher russischer Freund. Eigentlich existiert Michael gar nicht.«
»Ich liebe Verschwörungen«, sagte Elena. »Bitte, Sie müssen mir beim Essen Gesellschaft leisten.«
»Sind Sie sicher, dass wir Ihnen nicht zur Last fallen?«
»Sind
Sie
sicher, dass Sie mit meinen Kindern essen wollen?«
»Wir würden gern mit Ihren Kindern essen.« »Dann also abgemacht.«
Elena winkte Jean-Luc mit einer gebieterischen Geste zu sich und bat ihn auf Französisch, noch einen Tisch an die Sitzbank zu stellen, damit sich ihre Freunde zu ihr setzen könnten. Darauf folgten ausgiebiges Stirnrunzeln und Lippenschürzen und schließlich eine langatmige Erklärung, dass die Tische bereits sehr eng stünden und kein weiterer mehr dazugestellt werden könne. Die einzige Lösung, so schlug er vorsichtig vor, sei, dass zwei Männer aus Madame Charkowas Entourage mit den beiden Freunden Madame Charkowas die Plätze tauschten. Diesmal war es Oleg, der Chef ihrer Begleitmannschaft, der herbeigewinkt wurde. Wie zuvor Jean-Luc erhob auch er Einwände. Er wurde mit ein paar knappen Worten zurechtgewiesen, die, wären sie nicht in Umgangsrussisch gesprochen worden, das gesamte Lokal schockiert hätten.
Der Platztausch war schnell vollzogen. Zwei Leibwächter schmollten nun am anderen Ende des Tischs, einer mit dem Handy am Ohr. Sarah versuchte, nicht daran zu
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