Das Moskau-Komplott
legte es behutsam vor sich auf den Tisch. Dann sah sie Sarah an und bedachte sie wieder mit diesem Lächeln, dessen Strahlen nicht echt war.
»Iwan wollte heute Nachmittag eigentlich mit der Jacht hinausfahren, aber jetzt hat er beschlossen, uns beim Essen Gesellschaft zu leisten. Er ist drüben im Hafen. In ein oder zwei Minuten wird er hier sein.«
»Wie reizend«, sagte Sarah.
Elena schloss die Speisekarte und warf ihren Leibwächtern einen kurzen Blick zu. »Ja«, sagte sie, »Iwan kann sehr aufmerksam sein, wenn er will.«
38 Saint-Tropez, Frankreich
Die »Ankunft«, als die sie später in die Chronik des Unternehmens eingehen sollte, erfolgte genau fünfundvierzig Sekunden, nachdem Elena ihr Handy auf das weiße Tischtuch gelegt hatte. Obwohl Iwan zum Zeitpunkt des Anrufs nur dreihundert Meter entfernt im alten Hafen gestanden hatte, kam er nicht zu Fuß, sondern im gepanzerten Mercedes, aus Furcht, in dem Menschengewühl, das sich lustlos an den Kais vorbeischob, könnte ihm ein Feind auflauern. Der Wagen brauste mit hoher Geschwindigkeit auf den Rathausplatz und stoppte ein paar Meter vor dem Eingang des Grand Joseph abrupt. Iwan harrte noch weitere fünfzehn Sekunden auf dem Rücksitz aus, was im Restaurant selbst angeregtes Gemurmel und Spekulationen über seine Identität, Nationalität und Profession auslöste. Dann sprang er aus dem Wagen, angriffslustig wie ein Preisboxer, der aus seiner Ecke stürmt, um dem bedauernswerten Gegner den Garaus zu machen. Im Eingang des Restaurants verharrte er abermals kurz, diesmal, um sich im Raum umzusehen und umgekehrt den Gästen Gelegenheit zu geben, ihn in Augenschein zu nehmen. Er trug eine locker sitzende schwarze Leinenhose und ein strahlend weißes Baumwollhemd. Sein eisengraues Haar glänzte unter einem frischen Ölfilm, und sein linkes Handgelenk umspannte eine protzige goldene Armbanduhr. Sie funkelte wie ein geplünderter Schatz, als er mit ausgreifenden Schritten auf den Tisch zusteuerte. Er setzte sich nicht sofort, sondern blieb hinter Elena stehen und legte ihr besitzergreifend seine riesigen Hände auf die Schultern. Nikolaj und Anna strahlten beim unerwarteten Erscheinen ihres Vaters, und Iwans Miene milderte sich vorübergehend. Er sagte etwas auf Russisch, das die Kinder in Gelächter ausbrechen ließ und Michail zum Schmunzeln brachte. Iwan schien Letzteres zu registrieren. Dann strich sein Blick über den Tisch wie ein Suchscheinwerfer über freies Feld, bevor er sich an Sarah heftete. Bei ihrer ersten Begegnung hatte die von Gabriel verordnete unelegante Kleidung Sarahs Reize verhüllt. Jetzt trug sie ein dünnes, pfirsichfarbenes Sommerkleid, das ihren Körper in einer Weise umschmiegte, die den Eindruck verschleierter Nacktheit erweckte. Iwan bewunderte sie unverhohlen, als ziehe er in Erwägung, sie seiner Sammlung einzuverleiben. Mehr aus einer instinktiven Abwehrhaltung heraus als zum Zeichen der Freundschaft streckte ihm Sarah die Hand entgegen, doch er ignorierte sie und küsste sie stattdessen auf die Wange. Seine Schmirgelpapierhaut roch nach Kokosbutter und einer anderen Frau.
»Saint-Tropez bekommt Ihnen offensichtlich, Sarah. Sind Sie das erste Mal hier?«
»Seit meiner Kindheit komme ich immer wieder her.«
»Haben Sie auch hier einen Onkel?«
»Iwan!«,
fuhr ihn Elena an.
»Keinen Onkel.« Sarah lächelte. »Nur eine langjährige Liebesaffäre mit Südfrankreich.«
Iwan runzelte die Stirn. Er wurde nur ungern daran erinnert, dass jemand, zumal eine junge Frau aus dem Westen, vor ihm irgendwo gewesen war oder etwas getan hatte.
»Warum haben Sie letzten Monat nicht erwähnt, dass Sie hierherkommen? Wir hätten uns verabreden können.«
»Ich wusste nicht, dass Sie hier sein würden.«
»Tatsächlich? Es stand in allen Zeitungen. Mein Haus hat früher einem Mitglied der britischen Königsfamilie gehört. Als ich es gekauft habe, stand die Londoner Presse kopf.«
»Das muss mir irgendwie entgangen sein.«
Wieder fiel ihr der leiernde Tonfall von Iwans Englisch auf. Es war, als spreche man mit einem Ansager des englischsprachigen Programms von Radio Moskau. Sein Blick wanderte zu Michail, dann wieder zurück zu Sarah.
»Wollen Sie mir nicht Ihren Freund vorstellen?«, fragte er.
Michail stand auf und reichte ihm die Hand. »Ich heiße Michael Danilow. Sarah und ich sind in Washington Arbeitskollegen.«
Iwan ergriff die dargebotene Hand und quetschte sie. »Michael? Was ist das für ein Name für einen
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