Das Moskau-Spiel
die Amerikaner in die gleiche Situation bringen, in die sie uns gebracht haben. Keine zehn Minuten Vorwarnzeit. Wir werden un sere U-Boote an die amerikanischen Küsten schicken und noch ein Land in Lateinamerika finden, dem wir den Rachen mit US – Dollars oder Öl vollstopfen, damit wir auch dort Raketen und Flugzeuge stationieren dür fen. Und unsere Generäle werden absolut geniale Pläne erarbeiten, die es uns ermöglichen, den kommenden Krieg zu gewinnen. Menschenleben zählen bei uns traditionell nicht so viel, auf ein paar Millionen Tote kommt es nicht an, sie sind ein annehmbarer Preis für die Rettung vor dem Untergang.«
»Nach Ihrer Logik ist Tschernenko die Schlüsselfigur«, sagte Henri. Er war verwirrt über die Verzweiflung der beiden. Und warum erzählten sie ihm das? Er war doch der Feind.
»Nein und ja. Washington ist es genauso, aber wir sind keine Amerikaner.«
»Und was wollen Sie von mir?«
Die beiden tauschten wieder einen Blick aus. Dann sagte Eblow: »Zehn Millionen Dollar.«
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XI .
Mehr als zwei Jahrzehnte später saß Henri auf dem Balkon seines teuren Hauses an dem Hang mit den respektablen Grundstückspreisen über der Kleinstadt Staufen und schaute auf die Vogesen, bis die Nacht alles Licht löschte. Auf dem Tisch ein Glas französischen Rotwein, daneben das neue Buch eines britischen Historikers über die Geschichte Preußens. Er liebte solche Abende, wo manchmal ein Hund bellte, eine Stimme etwas rief und so nur unterstrich, wie still es wahr. Und wie friedlich.
Er war ein hundsmiserabler Vater, das wusste er. Aber er war nicht unglücklich deswegen. Der Mensch hatte Stärken und Schwächen, das eine gäbe es nicht ohne das andere. Henri schniefte. Doch Theo war nicht aus seinem Kopf, war es nie gewesen, irgendwie fühlte er sich für ihn verantwortlich, inzwischen weniger als früher, doch immerhin konnte er die Berufswahl des Sohns beeinflussen und ihm gewiss helfen, wenn auch eher indirekt. Theo war zwar noch ein Grünschnabel, aber intelligent, lernwillig und lernbegierig, und es erfüllte Henri mit Stolz, dass der Sohn ganz nach dem Vater kam. Vielleicht ein bisschen weicher, wie es gerade zeitgemäß war in der Ära der Ökopaxe, deren Gefühlsduselei das Land längst zersetzt hatte. Alle Parteien wollten das Gleiche, sie waren nur noch Fraktionen von ein und demselben Betroffenheitsverein, die nicht einem Programm folgten, sondern dem Zeitgeist. Das Geschrei der angeblichen Konkurrenten in denTeilparteien wurde umso lauter, je weniger sie unterschied. Henri war ein Anhänger der klaren Kante, wie die Leute im Norden sagten. Entweder oder. Er verachtete diese gelackten Existenzen, die mit ihrer Wahl zum Klassensprecher schon die wichtigste Entscheidung ihrer Karriere getroffen hatten und dann als gesichtslose Sprechblasenproduzenten die Politik vermüllten. Figuren ohne Eigenschaften, die natürlich jederzeit alles besser wussten, ohne eine einzige Minute wirklich gelebt zu haben. Politzombies.
Das Telefon klingelte, Henri erschrak fast.
»Klein«, meldete sich der Anrufer.
Henri schwieg eine Weile, dann sagte er: »Tag, Klein.«
»Martenthaler, es geht um Theo. Er ist wieder nach Moskau gefahren, mit einer Reisegruppe. Und dann ist er verschwunden.«
»Woher wisst ihr das?«
»Einer von der Botschaft hat ihn zufällig gesehen, und dann haben wir hier ein bisschen recherchiert. War nicht schwierig. Als wir ihn in Moskau im Hotel … besuchen wollten, war er weg. Weißt du, wo er ist?«
»Nein«, sagte Henri und legte auf.
Henri schüttelte den Kopf, trank einen Schluck, schaute auf die Vogesen und kalkulierte die Möglichkeiten, die es gab. Nummer eins: Die Russen hatten ihn. Das war unangenehm, aber man überlebte es, und irgendwann schmissen sie einen raus. Eine Erfahrung fürs Leben, die man nicht unbedingt anstreben sollte, die einen aber weiterbrachte, wenn es denn geschah. Nummer zwei: Er war abgetaucht, weil er sich verfolgt fühlte oder mit einer Verfolgung rechnen musste. Die Frage war nur, was trieb Theo dort? Warum auf eigene Faust? Nummer drei: Er war tot oder lag verletzt in einem Krankenhaus. In diesem Fall würde sich die russische Justiz irgendwann melden.
Was, verdammt, suchte Theo in Moskau? Immer nochdie Scheffer-Sache? Und dann wurde er unruhig. Ganz gegen seinen Willen.
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Protossow fuhr zügig, achtete aber darauf, die Verkehrsregeln einzuhalten. An zwei Stellen auf ihrer Fahrt standen Polizisten am Straßenrand, die
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