Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
fünf Minuten nachdem sie in das elegant eingerichtete Wohnzimmer geführt worden waren, hatten Jon und Fiona begriffen, warum die Witwe des ehemaligen Parteibonzen in ländlicher Isolation lebte. Ihre widerstrebende Gastgeberin war eine Frau, die Gesellschaft weder brauchte noch mochte. Sie zog ein Leben in fast vollständiger Einsamkeit vor, mit nicht mehr als einer Handvoll von Bediensteten, die zum Kochen, Putzen und zur Erfüllung ihrer kleinlichen, exzentrischen Wünsche nötig waren.
Madame Irina Sakarowa war eine zierliche Frau mit einer spitzen, schnabelartigen Nase und kleinen, dunklen Raubtieraugen, die ständig in Bewegung zu sein schienen – beobachtend, bewertend und dann verächtlich abweisend. Ihr schmales, runzliges Gesicht hatte den säuerlichen, verkniffenen Ausdruck derer, die nie viel von anderen erwarten und sich fast immer in ihrer abgrundtief schlechten Meinung von ihren Mitmenschen bestätigt finden. Nachdem sie Smiths gefälschten WHO-Ausweis begutachtet hatte, händigte sie ihn mit zynischem Blick und gleichgültigem Achselzucken wieder aus. »Na gut. Sie können Ihre Fragen stellen, Dr. Strand. Aber ich kann Ihnen nicht viele nützliche Antworten versprechen. Ehrlich gesagt, das ganze Getue um die letzte Krankheit meines Mannes war für mich sehr ermüdend.« Sie zog ihre Mundwinkel noch weiter nach unten. »All diese lächerlichen Doktoren und Krankenschwestern und Beamten vom Gesundheitsministerium, die immer wieder die gleichen traurigen Fragen stellten. Was hat er als Letztes gegessen? Ist er jemals Strahlungen ausgesetzt gewesen? Welche Medikamente hat er genommen? So fragten sie endlos in einem fort. Es war völlig absurd.«
»Wieso absurd?«, fragte Smith vorsichtig.
»Aus dem einfachen Grund, weil Alexander ein wandelndes
Beispiel für schlechte Gesundheit und üble Angewohnheiten war«, versetzte Madame Sakarowa kühl. »Sein ganzes Leben lang hat er zu viel gegessen und getrunken und geraucht. Alles könnte ihn umgebracht haben – eine Herzattacke, ein Schlaganfall, irgendein Krebs … was immer Sie wollen. Daher war die Tatsache, dass sein Körper am Ende schlappmachte, nicht besonders überraschend oder gar interessant für mich. Ich verstehe wirklich nicht, warum diese Ärzte um seinen Tod so viel Aufhebens gemacht haben.«
»An dieser rätselhaften Krankheit sind noch mehr Menschen gestorben«, erklärte Fiona spitz. »Unter anderem ein unschuldiger kleiner Junge, der die üblen Angewohnheiten Ihres Mannes nicht geteilt hat.«
»Ach ja?«, fragte die alte Frau gleichgültig. »Und das Kind war ansonsten gesund?«
Smith nickte und gab sich große Mühe, seine Abneigung gegen diese hartherzige, außergewöhnlich selbstsüchtige Frau zu verbergen.
»Seltsam«, sagte Madame Sakarowa mit einem weiteren gefühlskalten Achselzucken. Sie seufzte lustlos. »Na dann muss ich wohl mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen, egal, wie unangenehm es für mich ist.«
Geduldig, viel geduldiger als er selbst es für möglich gehalten hätte, stellte Smith ihr dieselben Fragen wie den Woronows. Wieder notierte Fiona sorgsam die Antworten, obwohl sie aufreizend lückenhaft waren.
Als der alten Frau schließlich deutlich anzumerken war, dass ihre Geduld zu Ende ging, hielt Jon die Zeit für gekommen, die Befragung auf das Gebiet zu lenken, das sie am meisten interessierte – das European Center for Population Research und seine DNA-Sammlung in der Moskauer Gegend.
»Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben, Madam Sakarowa. Sie haben uns sehr geholfen«, log Smith während er sich
in seinem Sessel zurücklehnte und anfing, seine Papiere einzusammeln. Doch dann hielt er inne und beugte sich wieder vor. »Ach, eine kleine Sache wäre da noch.«
»Ja?«
»Aus unseren Unterlagen geht hervor, dass Sie und Ihr Gatte letztes Jahr an einer größeren DNA-Studie teilgenommen haben«, sagte Smith beiläufig, im Geiste die Finger kreuzend. »Ist das richtig?«
»Diese genetische Studie?« Die alte Frau schnaubte leise. »Oh ja. Wir haben uns im Namen der Wissenschaft von wildfremden Menschen im Mund herumfuchteln lassen. Ein widerliches Ritual, wenn Sie meine Meinung wissen wollen. Doch Alexander fand die ganze groteske Geschichte ungeheuer aufregend.« Verächtlich schüttelte sie den Kopf. »Mein Mann war ein Narr. Er glaubte doch tatsächlich, dieses sogenannte Studie zum Ursprung der slawischen Völker würde eine seiner dummen Lieblingstheorien beweisen – nämlich dass wir Russen
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