Das Moskau Virus: Roman (German Edition)
weiß, dass die Welt in Wahrheit von Fakten und Zwängen regiert wird.«
Tiflis, Georgien
Georgiens Hauptstadt lag in einem natürlichen Amphitheater, ringsum umgeben von hohen Hügeln mit alten Festungen, zerfallenden Klöstern und dichten Wäldern. An einem klaren Tag wie diesem waren am nördlichen Horizont die weit entfernten schneebedeckten Gipfel des Kaukasus zu sehen, die sich deutlich gegen den blassblauen Himmel abzeichneten.
In der obersten Etage des Fünf-Sterne-Hotels Marriott Tiflis lehnte Sarah Rousset, Korrespondentin der New York Times , am Geländer des Balkons, der zu ihrem Zimmer gehörte. Sie war erst Mitte dreißig, doch ihr ursprünglich kastanienbraunes Haar wurde bereits grau, und sie ließ es so. Älter auszusehen, als sie tatsächlich
war, wirkte vertrauenerweckend, auf wichtige Herausgeber ebenso wie auf neue potentielle Informanten. Mit einem Auge spähte sie durch den Sucher ihrer digitalen Kamera und begann, von der riesigen Menschenmenge unten auf der breiten, von Bäumen gesäumten Straße Fotos zu machen.
Sie zoomte eine kleine, weißhaarige Frau heran, die eine rosenfarbene Fahne schwenkte. Schwarze Trauerbänder flatterten an der Stange. Das faltige Gesicht der Frau war tränenüberströmt. Mit einem leichten Fingerdruck fror Sarah das anrührende Bild ein und legte es im Datenspeicher ihrer Kamera ab. Das könnte auf die erste Seite kommen, dachte sie. Direkt neben den Leitartikel mit ihrem Namen.
»Wundervoll«, murmelte sie, während sie weitere Fotos schoss.
»Wie bitte?«, fragte der groß gewachsene Mann mit dem kantigen Kinn, der direkt neben ihr stand, verständnislos. Er war der Botschafter der amerikanischen Gesandschaft vor Ort.
»All diese Leute«, erklärte Sarah und deutete mit dem Kinn auf die Georgier, die sich unter ihnen drängten. In einem Meer aus rosenfarbenen Fahnen und Plakaten bewegte sich die stumme Menge langsam ostwärts auf das Parlamentsgebäude zu. »Da unten in der Eiseskälte müssen zehntausende von Leuten unterwegs sein. Womöglich noch mehr. Und alle sind vereint in Sorge und Trauer. Um einen einzigen kranken Mann.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wird eine wundervolle Geschichte.«
»Eher eine schreckliche Tragödie«, erwiderte ihr Besucher knapp. »Für Georgien ganz bestimmt, und vielleicht sogar für die gesamte Kaukasusregion.«
Sarah ließ die Kamera sinken und warf ihm unter ihren langen Wimpern einen Seitenblick zu. »Tatsächlich? Würden Sie mir wohl erklären, warum … so, dass meine Leser es verstehen können, meine ich?«
»Ohne Namensnennung?«, frage er leise.
Sarah nickte. »Kein Problem.« Sie lächelte verständnisvoll.
»Nennen wir Sie in der Zeitung einfach ›einen erfahrenen westlichen Beobachter der georgischen Politik‹.«
»Das wäre in Ordnung«, stimmte der Diplomat zu. Er seufzte. »Also, Ms. Rousset, man muss wissen, dass Präsident Jaschwili für diese Menschen mehr ist als nur ein gewöhnlicher Politiker. Er ist zum Symbol ihrer demokratischen Rosenrevolution geworden, ein Symbol für Georgiens Frieden und Wohlstand, vielleicht sogar für das Fortbestehen des Landes.«
Mit einer Handbewegung deutete er auf die fernen Hügel und Berge. »Jahrhundertelang ist diese Region von rivalisierenden Mächten beansprucht worden, von Persien, dem Byzantinischen Reich, den Arabern, den Türken, den Mongolen und schließlich den Russen. Selbst als die Sowjetunion schon zerfallen war, lag Georgien noch danieder, verheert von ethnischen Machtkämpfen, Korruption und politischem Chaos. Als die Rosenrevolution ihn ins Amt brachte, hat Michail Jaschwili begonnen, das alles zu ändern. Durch ihn haben diese Menschen zum ersten Mal seit achthundert Jahren tatsächlich Aussicht auf eine kompetente demokratische Regierung.«
»Und nun stirbt er«, unterbrach Sarah. »An Krebs?«
»Möglich.« Der große Amerikaner zuckte betrübt die Achseln. »Aber niemand weiß Genaues. Meine Quellen innerhalb der Regierung behaupten, dass es seinen Ärzten nicht gelingt, die Krankheit, die ihn umbringt, zu diagnostizieren. Sie wissen nur, dass sich die Funktion seiner lebenswichtigen Organe rapide verschlechtert und dass eins nach dem anderen ausfällt.«
»Was passiert als Nächstes?«, überlegte die Reporterin der New York Times laut. »Wenn Jaschwili stirbt?«
»Nichts Gutes jedenfalls.«
Sarah hakte nach. »Könnten andere Landesteile sich lossagen – genau wie Südossetien und Abchasien?« Die Kämpfe in diesen selbst
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