Das München-Komplott
unsichtbaren Fäden, das funktioniert bereits sehr gut und sieht bei diesen kleinen Gesten wirklich verblüffend echt aus. Kein statisches Kunstwerk: Die Puppen sitzen da nicht unbeweglich rum, sondern werden alle paar Minuten eine kleine Bewegung machen – das hat eine unglaubliche Wirkung, glaub mir.«
Er führte Georg und Martin zum Eingang des Wohnbereichs.
»Georg, wir wollen dich ausmessen. Du hast Idealmaße. Die Puppen müssen ja von den Proportionen, dem Gewicht, der ganzen Figur echt wirken. Anna nimmt deine Maße, und dann mixe ich euch den neuen Drink.«
Bevor Dengler etwas sagen konnte, erschien bereits Anna, lächelnd, mit einem Maßband in der Hand.
Ein halbe Stunde später saßen sie in der Küche.
»Es gibt einen Drink, dessen Rezept mir ein Freund und Stammkunde verraten hat«, sagte Mario. »Ich nenne ihn Schorlaunovska.«
»Merkwürdiger Name«, sagte Klein.
»Stimmt«, sagte Mario. »Schmeckt trotzdem.«
Er nahm vier Grapefruits aus einem Korb, halbierte sie und begann die Hälften auszupressen.
»Du willst etwas über das Attentat von Bologna wissen?«, fragte er Dengler währenddessen.
»Ja.«
»Das Problem ist: Wenn ich jetzt diese Geschichte über Italien erzähle, denkt ihr wieder, um wie viel besser es doch in Deutschland ist. Wenn ich irgendetwas hasse, dann ist es das beschissene und durch nichts zu rechtfertigende deutsche Überlegenheitsgefühl.«
»Mario, jetzt übertreib mal nicht«, sagte Martin Klein.
»Dann beantwortet mir mal die folgenden drei Fragen: In welchem Land wird ein ehemaliges Softporno-Starlet als Ministerin gehandelt? Zweite Frage: In welchem Land verfügt eine einzige Person über 80 Prozent der Boulevardpresse? Und drittens: In welchem Land werden Betriebsräte großer Konzerne auf Firmenkosten in einen Puff geflogen? Die Antworten, bitte! Georg zuerst.«
»Das ist einfach«, sagte Dengler. »Das ist Italien, wie es leibt und lebt.«
»Jetzt du, Martin.«
»Bella Italia. Ganz klar.«
»Falsch. Es handelt sich um Deutschland. Frau Wöhrl gehört der CSU an. Sie ist Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium und spielte eine Rolle in dem Pornostreifen ›Die Stoßburg‹. Der Medienmogul heißt Mathias Döpfner und dirigiert den Springer-Konzern. Und die Spesenbumser waren Betriebsräte von VW. Ihr habt eine völlig falsche Vorstellung von eurem eigenen Land. Ihr haltet es für liberal und aufgeklärt.«
»Deutschland ist liberal und aufgeklärt«, sagte Dengler.
»Du hast keine Ahnung, Georg. Wirklich, es tut mit leid, aber du hast keine Ahnung. Wir haben uns lustig gemacht über die Amerikaner, als die noch auf die Lügen von Bush hereinfielen. Wir fühlen uns viel klüger als die Italiener, die diesen Clown Berlusconi wählten. Wir würden das nie tun, denn wir sind aufgeklärt. Wir lachen über die Franzosen, die der Grande Nation nachtrauern. Warum sehen ausgerechnet wir Deutschen die Dinge zutreffender als diese Völker?«
»Sag es uns.«
»Weil wir nicht den Lügen der amerikanischen, der italienischen, der französischen Regierung ausgesetzt sind. Diese Lügen sind ja immer auf das eigene Volk gemünzt. Deshalb sehen wir klarer. Manchmal jedenfalls.«
»Du meinst: Jeder sieht sein Land positiver, als es ist. Gerade die Deutschen.«
»Ich frage: Was ist mit den Lügen, die an uns adressiert sind? Erkennen wir die? Offensichtlich nicht, sonst würden wir wahrscheinlich nicht sagen, Deutschland sei ein liberales Land.«
»Und du siehst alles nur schwarz.«
Eine leicht feindselige Stimmung, vielleicht nur eine Irritation, machte sich für einen Augenblick in Marios Küche breit.
Dann lachte Mario und löste das Schweigen auf.
»Jetzt zu eurer Frage. Es war 1980 im Sommer.«
»Im gleichen Jahr wie das Attentat auf das Münchener Oktoberfest …«
»Georg, bitte unterbrich mich nicht, wenn ich erzähle.«
»Sorry.«
»Die Bombe war in einem Koffer versteckt und wurde im gut besetzten Wartesaal des Bahnhofs von Bologna gezündet. Vormittags um halb elf. Die Explosion war verheerend. Der größte Teil des Bahnhofs war kaputt. Der Wartesaalbrach über den Wartenden zusammen. Viele wurden von den Trümmern erschlagen und verschüttet. Einheimische, Pendler, Touristen. Männer, Frauen, Kinder. Gnadenlos. Ich hab vorhin noch mal im Netz nachgeschaut: 85 Tote und 200 Verletzte. Die Stadt war nicht auf einen solchen Anschlag vorbereitet. Es gab nicht genügend Krankenwagen. Busse und Taxis transportierten die Verletzten in die bald
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