Das Multiversum 1 Zeit
dann aufschreiben und unter ihrem Namen veröffentlichen …«
Maura stellte die Ohren auf Durchzug. Das war offensichtlich Reeves spezielle Litanei, ihr Steckenpferd sozusagen. Worum machte Reeve sich wirklich Sorgen – um das Schicksal der Kinder an diesem fragwürdigen Ort oder doch eher darum, dass die ›Hupfdohlen‹ von Akademikern in ihren Abhandlungen und Thesen sie offensichtlich nicht würdigten?
Jedes Kind trug einen blassgoldenen Overall mit einem Reißverschluss an der Vorderseite. Auf die Brust war ein blauer Kreis gestickt.
»Wozu die Uniformen?«
»Das fragt jeder. Wir nennen sie Spielanzüge. Wir mussten uns etwas einfallen lassen, als die Kennzeichnung durch einen blauen Kreis gesetzlich vorgeschrieben wurde. Sie sind recht praktisch und bestehen aus einem smarten Gewebe, das im Winter wärmt und im Sommer kühlt … Zumal die Kinder das blaue Logo als tröstlich zu empfinden scheinen. Wir wissen nicht, weshalb. Außerdem hilft es uns dabei, geflohene Kinder zu identifizieren.«
Nevada. Stacheldraht. Uniformen. Fliehen. Das mochte eine Schule sein, aber mit dem starken Beigeschmack eines Käfigs.
Reeve führte sie in ein anderes Laboratorium. Irgendwelche Ausrüstung war auf Labortischen im ganzen Raum verteilt. Zum Teil 420
handelte es sich um Geräte in weißen Kästen – anonymen Labor-kram, den Maura nicht zu identifizieren vermochte. Aber es gab auch ein paar Apparate, die sie aus ihrer Schulzeit noch kannte: Bunsenbrenner, klobige Elektromagneten und etwas, das wie ein Van de Graaff-Generator aussah.
Es waren fünf Kinder hier versammelt, die im Kreis und im Schneidersitz auf dem Boden saßen. Eins von ihnen war Tom Tybee. Die Kinder hatten keine Hilfsmittel dabei, weder Softscreens noch Schreibpapier. Sie unterhielten sich bloß, aber so schnell, dass Maura kaum ein Wort verstand. Eins der Kinder war ein Mädchen. Sie war etwas größer als die anderen und hatte das blonde Haar akkurat zu Zöpfen geflochten, die am Kopf anlagen.
Aber es war nicht ersichtlich, ob sie die Diskussion leitete.
»Wir bezeichnen das als unser Physiklabor«, sagte Reeve leise.
»Aber die Kinder befassen sich überwiegend mit, wie wir es nennen würden, multidisziplinären Forschungen. Und wenn sie ihnen nicht folgen können, machen Sie sich nichts draus. Wenn sie ein bestimmtes Wort nicht wissen, erfinden sie eben eins. Manchmal gelingt uns eine Rückübertragung. Manchmal gibt es aber auch keine Entsprechung.«
»Schlaue Kinder.«
»Kleine Klugscheißer«, sagte Reeve mit einer Heftigkeit, die Maura erschreckte. »Natürlich befassen sie sich überwiegend mit Theorie. Wir können ihnen hier keine moderne Ausrüstung bieten.«
»Wenn es eine Geldfrage ist…«
»Frau Abgeordnete Della, das sind immer noch Kinder. Sie können kein Kind, und sei es noch so intelligent, an einem Teilchenbeschleuniger herumspielen lassen.«
»Ja – ich glaube nicht.«
Während sie den Kindern zusah, die ruhig und zielstrebig redeten und arbeiteten, keimten in ihr die Angst und die abergläubi-421
sche, destruktive Ehrfurcht auf, die sie bei anderen so verabscheu-te.
Die Frage lautete, worauf arbeiteten sie hin? Was war ihr Ziel, weshalb waren sie hier, woher wussten sie, was zu tun war? Auf diese Fragen gab es keine Antwort, aber sie gaben Anlass zur Sorge – und dabei war sie nicht einmal eine Mutter, für die die wichtigste Frage überhaupt sich gestellt hätte: Wieso mein Kind? Wieso hat man es mir weggenommen?
Vielleicht kennen wir die Antworten bald, sagte sie sich unbehaglich. Aber was dann?
■
»Hallo, Ms. Della.«
Maura senkte den Blick. Es war Tom Tybee. Er stand in seinem goldenen Anzug stramm und feierlich vor ihr. Er hielt etwas umklammert, das wie ein orangefarbener Fußball aussah.
Maura rang sich ein Lächeln ab und beugte sich zu Tom hinunter. »Hallo, Tom.«
Das größere blonde Mädchen trat neben ihn. Sie fasste Tom an der Hand und beobachtete Maura argwöhnisch mit ihren dunklen Augen.
»Schau.« Tom hielt ihr sein Spielzeug hin. Es war sein Herz: ein Gefühlsbehälter, ein Bild-Ton-Aufzeichnungsgerät, das es dem Benutzer ermöglichte, seine schönsten Erlebnisse aufzunehmen.
Maura fragte sich, was er hier wohl Schönes gespeichert hatte.
»Meine Mom hat es mir gegeben.«
»Das ist ja toll.«
»Abgeordnete Della, das ist Anna«, sagte Reeve. »Unsre älteste Schülerin.«
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Das Mädchen starrte Maura an – nicht etwa feindselig, nur reserviert und vorsichtig.
»Kann ich jetzt
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