Das Multiversum 1 Zeit
wo die Öffentlichkeit Sheenas Tod mit blutendem Herzen hingenommen hätte. Die Asteroiden-Kolonie als ewiger Tribut an ein tapferes und wundervolles Geschöpf. Aber das hat alles verändert…«
Es stimmte. Seit diese letzte Neuigkeit durchgesickert war, war der Rückhalt für Bootstraps Cruithne-Projekt und die grandiosen Ziele verpufft.
Obwohl die von den Boulevardzeitungen geschürte Hysterie, die religiösen Tiraden und die ebenso selbstgerechten wie feindseligen Kommentare natürlich absurd waren. Wenn die Tötung von zehn oder tausend empfindungsfähigen Kalmaren ein Verbrechen war, dann galt das auch für einen.
Doch wann, fragte sie sich verdrießlich, hatten Vernunft und Rationalität jemals öffentliche Diskussionen über Wissenschaft und Technik beherrscht?
Malenfant breitete die Hände aus. »Schauen Sie, Frau Kongressabgeordnete, wir haben das Geld schon ausgegeben. Wir haben die Anlagen auf Cruithne. Es funktioniert. Kalmar-Baby hin oder her, wir haben das Ziel erreicht und die Stiefel geschnürt.«
»Malenfant, wir werden bald einen Asteroiden haben, der ein Friedhof für die Leichen empfindungsfähiger Kalmare ist. Die Leute werden das für eine Ungeheuerlichkeit halten.« Sie blinzelte.
»Ich übrigens auch.«
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Er ließ sich das durch den Kopf gehen. »Sie sprechen davon, uns den Laden dichtzumachen?«
»Malenfant, nach menschlichem Ermessen sind Sie schon tot.
Die Leiche ist nur noch nicht kalt, das ist alles.«
»Das ist nicht allein Ihre Entscheidung. Die FAA, das Weiße Haus, die Prüfungs-Ausschüsse …«
»Ohne mich und ein paar andere wie mich wäre Bootstrap längst erledigt.« Sie zögerte und legte ihm dann die Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid, Malenfant. Ich hatte den gleichen Traum. Aber damit kommen wir nicht durch.«
»Wir werden es mit Anstand tun«, sagte Emma. »Wir werden Sheena nicht töten. Wir werden es ihr so leicht wie möglich machen.«
»Und die Babies?«
Sie zuckte die Achseln. »Wir schalten die Kommunikations-Verbindung ab und lassen der Natur ihren Lauf. Ich hoffe nur, dass sie uns vergeben werden.«
»Das bezweifle ich«, sagte Malenfant und stapfte wieder zwang-haft umher. »Ich will es einfach nicht glauben, dass man uns wegen dieser Kleinigkeit den Hahn zudreht.«
»Werden Sie klarkommen?« fragte Maura Emma.
»Ja.« Emma schaute auf und rang sich ein Lächeln ab. »Wir waren schon weiter unten. Wir rappeln uns schon wieder auf.«
Maura wusste, dass Emma eigentlich etwas anderes aussagen wollte – dass sie Malenfant helfen würde, sich wieder aufzurap-peln. Sie würde ihm helfen, das zu überstehen. Du hast solche Freunde nicht verdient, Malenfant, sagte sie sich.
Dann gingen sie die Details durch.
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Sheena 5:
Sie spürte, wie der sanfte Zug des Schwerefelds von Cruithne sie zur dunklen Unterseite des Habitats beförderte. Sie driftete mit schlaffen schmerzenden Armen und träumte von einem Männchen mit hellen leeren Augen.
Es gab keine Fische mehr und kaum noch Krill und Garnelen.
Das Wasser, das durch ihren Mantel tropfte, war trüb und roch faulig. Sie spürte, wie das Leben immer schneller durch sie pulsierte, als ob es danach trachtete, sich selbst zu erschöpfen. Und sie fühlte sich so schwach, als ob selbst die Muskeln verzehrt würden; es war schon lang her, seit sie so viel Kraft in den großen Ringmuskeln des Mantels gehabt hatte, um wie in früheren Zeiten frei durch dieses Meer zu jagen, das sie durchs All hierher gebracht hatte.
Aber die Jungen ließen sie nicht im Stich. Sie kamen zu ihr, schüttelten ihre Glieder und suchten Anleitung. Mit einer Willens-anstrengung öffnete sie die Chromatophoren.
Ich bin Gras. Ich bin kein Kalmar.
Nein. Kluge Augen erschienen in ihrem Blickfeld. Nein. Gefahr nahe. Du stirbst wir sterben. Sie produzierten die schnellen, subtilen Signale eines Schulen-Wächters, die vor einem nahenden Räuber warnten. Natürlich gab es hier keinen Räuber außer dem aller-größten: dem Tod, der bereits von ihr Besitz ergriffen hatte …
Und sie wusste, dass er bald auch diese unglücklichen Jungen ereilen würde. Dan und Bootstrap hatten versprochen, sie am Leben zu erhalten. Aber sie würden die Systeme abschalten, wenn sie tot war. Sie fragte sich, woher die Jungen das wussten. Sie waren klü-
ger als sie.
Als sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, vergaß sie seltsamerweise, dass sie da waren – als ob sie aufhörten zu existieren, wenn sie sie nicht sah. Das Bewusstsein trübte
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