Das Multiversum 2 Raum
zogen. »Wir stecken hier mitten in einer epochalen Katastrophe, und die Leute haben es vergessen.« Sie spuckte in den Staub und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
Ben beugte sich nach vorn. »Carole. Glauben Sie, dass Nemoto recht hat? Dass die Gaijin uns vernichten wollen?«
Lerner kniff die Augen zusammen. »Das glaube ich nicht. Aber sie wollen uns auch nicht helfen. Sie – studieren uns.«
»Und was versuchen sie herauszufinden?«
»Da fragen Sie mich was. Aber sie würden wahrscheinlich auch nicht verstehen, was ich herauszufinden versuche.«
Nach einer Weile verließ Lerner das Zelt, um Getränke-Nachschub zu holen.
»Wir Menschen tun uns schwer mit dem Altern, nicht?«, murmelte Madeleine in Bens Armen.
»Ja.«
Aber es ist den Menschen gar nicht bestimmt, so lang zu leben, sagte sie sich. Vielleicht wissen die Gaijin das. Nur dass wir es 401
nicht wissen. Und das Gefühl der Hilflosigkeit ist überwältigend.
Kein Wunder, dass Lerner eine Besessene ist und Nemoto eine Einsiedlerin.
Ben sagte nichts.
»Du denkst an Lena«, sagte sie. »Hast du Angst?«
»Wieso sollte ich Angst haben?«
»Hundert Jahre sind eine lange Zeit.«
»Aber wir sind yirritja und dhuwa«, sagte er. »Wir gehören zusammen.«
Sie zögerte. »Und wir?«
Er lächelte nur abwesend.
Sie schaute zum Himmel empor. In der staubgeschwängerten Luft wurden viele Sterne ausgeblendet, und der fast volle Mond leuchtete grau mit intensiven grünen Einsprengseln. Und sie sah Blumen-Schiffe am Himmel patrouillieren. Schiffe von Aliens, die stumm die Erde umkreisten.
Und jenseits der Schiffe sah sie ein Flackern zwischen den Sternen. Zum Beispiel in Richtung des Orion. Funken und Feuerstö-
ße. Als ob die Sterne aufloderten und explodierten. Sie hatte das früher schon gesehen und es sich nicht zu erklären vermocht. Es war eigenartig. Beängstigend. Es war nicht vorgesehen, dass der Himmel sich veränderte.
Es war klar, dass irgendetwas in diese Richtung unterwegs war.
Etwas, das die Sterne umspannte, eine Wellenfront kolonisierender Aliens vielleicht.
»Das gefällt mir nicht«, sagte sie.
»Du meinst Australien?«
»Nein. Den Planeten. Den Himmel. Er gehört nicht mehr uns.«
»Falls er uns jemals gehört hat.«
Ich fürchte mich vor dem Himmel, sagte Madeleine sich. Aber ich kann nicht schon wieder weglaufen. Ich stecke drin – wie Nemoto es geplant hatte.
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Ich muss zum Triton gehen.
Um was zu tun? Blindlings Nemotos aberwitzigen Plan in die Tat umsetzen?
Sie lächelte insgeheim. Vielleicht fällt mir etwas ein, wenn wir erst einmal dort sind.
Lerner kam mit einer Flasche Schwarzgebranntem zurück; das Zeug schmeckte wie gespritzter Wein.
Sie lächelte sie kalt an. »Ich hörte, dass in Spanien und Frankreich die Leute sich in die Höhlen zurückgezogen hätten, an deren Wänden noch die Kunst aus der letzten Eiszeit prangt. Und sie überpinseln sie mit neuen Gemälden der Tiere, die sie in ihrer Umgebung sehen. Was meint ihr, vielleicht war das alles nur ein Traum? Die Warmzeit, die Zwischeneiszeit, unsere Zivilisation.
Vielleicht ist alles, worauf es ankommt, das Eis und die Höhle.«
Als die Sonne versank, brachten sie im hellen Schein des bewohnten Mondes Toasts aus: Auf die Venus, die Chaera, die Erde – und das Eis.
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kapitel 22
TRITON-TRAUMZEIT
Noch bevor Neptun sich als eine Scheibe abzeichnete, sah Madeleine, dass er blau und Triton weiß war. Blauer Planet und weißer Mond, die sich wie exotische Tiefseefische aus der allumfassenden Dunkelheit schälten.
Durch die hinter ihr stehende stecknadelkopfgroße Sonne schwoll Neptun zu einer Scheibe an. Der Planet war trübe und zeichnete sich als blaue Schliere gegen die Sterne ab, die mit Details sich füllte, während ihre Augen sich an die Dunkelheit ge-wöhnten. Neptun verwandelte sich in eine Kugel mit blauen und violetten Pastelltönen, die sichtlich strukturiert waren. Es gab gro-
ße Sturmsysteme, wirbelnde Knoten wie Jupiters Rotes Auge. Und es gab eine Schraffur aus dünnen weißen Linien über dem Blau – hohe Wolken, die sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in wenigen Stunden bildeten und wieder auflösten. Wenn das Sonnenlicht im richtigen Winkel einfiel, sah sie, dass diese hohen Wolken Schatten auf die tieferen Schichten warfen.
Sie war weit von zu Hause entfernt.
Sie hatte nicht einmal einen Vergleichsmaßstab für die gewaltigen Dimensionen dieses Raums. Die Sonne war zu einem gleißenden Stern geschrumpft, der so
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