Das Multiversum 2 Raum
sie noch liebte. Es war, als ob eine Großmutter ihren Enkelsohn und zugleich eine Frau ihren Mann begrüßt – komplex und vielschichtig.
Madeleine schaute sich verdrossen um.
Es war für sie offensichtlich, dass die Kolonie keine Überlebens-chance hatte.
409
Die Menschen waren abgehärmt und hatten eine blasse Hautfar-be. Sie waren unterernährt und wirkten wie Gespenster im trüben Sonnenlicht. Sie bewegten sich langsam, trotz der angenehmen Leichtigkeit der Gravitation. Mit Energie musste sparsam umge-gangen werden. Es herrschte hier eine Gefängnis-Atmosphäre. Diese Menschen hatten einst die offene Landschaft, die endlose Wüste durchstreift, wie sie sich erinnerte. Nun waren sie hier gefangen in diesem eisigen Bau. Sie glaubte, dass sie darunter litten, vielleicht auf einer Ebene, der sie sich selbst nicht bewusst waren.
Es gab nur wenige Kinder.
Die Leute von Kasyapa begegneten ihr freundlich. Sie waren allerdings in engen Familienverbänden organisiert, sodass sie hier für immer eine Außenseiterin geblieben wäre.
Madeleine verbrachte viel Zeit allein in ihrer eisigen Kemenate.
Sie führte zeitverzögerte Gespräche mit Nemoto, wobei sie mindestens zehn Stunden auf die entsprechende Erwiderung warten musste. Die Kommunikation glich eher dem Austausch von E-Mails. Aber sie kommunizierten wenigstens. Und allmählich enthüllte Nemoto den eigentlichen Auftrag, den sie für Madeleine vorgesehen hatte.
»Diese Leute verhungern«, flüsterte Nemoto. »Dabei sitzen sie auf einem gefrorenen Meer …«
Nemoto sagte ihr, dass Triton wahrscheinlich das fernste signifikante und nutzbare Wasserreservoir des Sonnensystems darstellte, auf jeden Fall innerhalb des Kuiper-Gürtels. Sie sagte, dass Robert Goddard, der amerikanische Raketenpionier, in einem Aufsatz mit dem Titel ›Die letzte Wanderung‹ vorgeschlagen hätte, Triton als Vorposten und Ausgangsbasis für interstellare Expeditionen zu nutzen. »Das war 1927«, sagte Nemoto.
»Goddard war ein weitsichtiger Mensch«, murmelte Madeleine.
»… Auch wenn er sich geirrt hat«, sagte Nemoto – hatte sie vor fünf Stunden gesagt. »Selbst wenn, wie sich nun herausstellt, Tri-410
ton als Brückenkopf für Expeditionen von den Sternen genutzt wird. Und nicht von uns, sondern von Aliens. Von den Gaijin.«
Aber das Meer unter Madeleines Füßen, ein paar Dutzend Kilometer tief, war nutzlos für die Kolonisten, solang es hart wie Stein war.
»Angenommen, es gelänge uns, dieses Meer zu schmelzen«, sagte Nemoto. Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
Aber wie? Die Sonne war zu weit entfernt. Natürlich könnte man das Sonnenlicht mit Spiegeln oder Linsen bündeln. Aber wie groß müsste ein solcher Spiegel sein? Tausend Kilometer Durchmesser oder mehr? Ein solches Projekt schien absurd.
»So arbeiten die Menschen nicht«, sagte Madeleine düster.
»Schauen Sie sich die Kolonisten hier an. Sie wühlen wie Ameisen.
Wir sind klein und schwach. Wir müssen die Welten so nehmen, wie wir sie vorfinden. Wir können sie nicht verändern.«
»Trotzdem«, kam Nemotos Antwort Stunden später, »müssen wir genau das tun, wenn wir überleben wollen. Wir müssen eher wie Gaijin als wie Menschen handeln.«
Nemoto hatte einen Plan. Er sah vor, einen Mond namens Nereide aus der Bahn zu reißen und eine Kollision mit Triton her-beizuführen.
Madeleine war empört. Das war pure Hybris.
Aber sie wartete ab, bis der Download von Nemotos Daten abgeschlossen war.
■
Es war ein geradezu verwegener Plan. Die Raketentriebwerke, die die Kolonisten hierher gebracht hatten, würden nun dafür zweck-entfremdet, einen Mond aus der Umlaufbahn zu reißen. Bei der Betrachtung der Zahlen kam Madeleine widerstrebend zu dem 411
Schluss, dass es zu schaffen war. Es würde ein Jahr dauern, nicht länger.
Trotzdem war es Wahnsinn, sagte Madeleine sich. Sie stellte sich die um Jahrhunderte in der Zeit gestrandete Nemoto vor, wie sie isoliert in der entlegendsten Ecke des Mondes hauste und irre Plä-
ne ausheckte, Monde durchs All zu schleudern – eine alte Frau, die die außerirdische Invasion mit einem Schuss aus der Hüfte ab-wehrte.
Und doch …
Sie betrieb Nabelschau. Was will ich überhaupt?
Ihre Familie, die Leute, mit denen sie aufgewachsen war, waren in der Vergangenheit verloren, auf einer gefrorenen Welt. Sie war entwurzelt. Trotzdem hatte sie keine Lust, sich dieser verschwore-nen Gemeinschaft anzuschließen, hatte Ben auch nicht beneidet, als Lena ihn nach
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