Das Multiversum 2 Raum
Eis, Wassereis. Sie schabte mit dem Stiefel auf dem Eis. Es war hart und undurchdringlich, und sie vermochte nicht einmal einen Kratzer zu hinterlassen; die Oberfläche war wie Stein. Hier, in dieser Kälte, spielte Eis die Rolle von Silikatgestein auf der Erde. Das Eis schimmerte in einem Hauch von Rosa, so schwach, dass es kaum zu sehen war. Eine Art organischer Reaktion durch Sonnenlicht vielleicht.
Sie machte einen, zwei Schritte. Schwebte und hüpfte wie ein Mondspaziergänger. Sie wusste, dass Tritons Schwerkraft kaum halb so stark war wie die auf dem Mond. Aber sie war ein großer plumper Mensch mit einem schwach ausgeprägten Schweregefühl; für ihren Körper fielen Triton und der Mond beide in die Sam-melkategorie mit der Bezeichnung ›Schwache Gravitation‹.
Sie schaute zum schwarzen Himmel empor. Es gab keinerlei Anzeichen für Luft, keine Streuung des Sonnenlichts: Nur einen dunklen Sternenhimmel, wie man ihn auf einer Hochebene in der Wüste sah – der aber von einem hellen Stecknadelkopf in der Mitte dominiert wurde. Die Sonne war noch hell genug, um Schatten zu werfen, aber sie empfand es nicht als ›richtiges‹ Sonnenlicht, eher wie die Beleuchtung durch einen sehr hellen Planeten wie die Venus. Das Land war eine fahle weiße Ebene, ein Land mitternächtlicher Stille, dessen Ebenen und Falten im schwachen Licht 407
wie Gaze wirkten. Es schien eine Schöpfung aus Rauch oder Dunst zu sein, nicht aus steinhartem Eis.
Dann neigte sie sich nach hinten und schaute nach oben zu der Stelle, wo Neptun am Himmel hing. Der Planet erschien in der Größe fünfzehn irdischer Vollmonde, die nebeneinander über den Himmel gespannt waren. Er war halb voll, düster, fast geisterhaft.
Aus dem Augenwinkel sah sie Bewegung: Flocken aus reinem Weiß, die um sie herabregneten.
»Schnee auf Triton?«
»Ich glaube, das ist Stickstoff«, sagte Ben.
Madeleine versuchte eine Stickstoff-Schneeflocke auf dem Handschuh zu erhaschen. Sie fragte sich, wie die Kristalle sich vom Wassereis-Schnee auf der Erde unterschieden. Aber die paar Flocken waren zu vergänglich und bald wieder verschwunden.
Ben tippte ihr auf die Schulter und deutete auf eine andere Stelle am Himmel, dichter über dem Horizont, auf etwas, das wie ein Stern aussah, der von einer diffusen Aureole umgeben wurde.
Es war ein Pionierkonvoi der Gaijin: Fremde Schiffe, die aus Asteroidengestein und Eis erbaut und auf dem Weg nach Triton waren.
■
Die ausgewanderten Yolgnu hatten sich im Ringwall einer flachen, kreisrunden Senke namens Kasyapa Cavus eine Heimat geschaffen.
Sie befanden sich hier am östlichen Rand von Bubembe Regio, einer Region aus so genanntem Kantalupe-Terrain, der komplexen parkettartigen Landschaft, die Madeleine schon während des Landeanflugs aufgefallen war. Der Cavus hatte einen glatten schüssel-artigen Boden, der eine leichte Fortbewegung ermöglichte. Es gab hier auch Fahrzeuge, deren große Ballonreifen keine Abdrücke auf 408
dem Eisboden zu hinterlassen schienen. Kasyapa Township war ein System verzweigter Kavernen. Die Kolonisten hatten sich tief ins Eis gegraben. Durch eine dicke Schicht aus Eis und mit Metallhüllen der Raumschiffe schützten sie sich vorm Strahlenfluss von Neptuns Magnetosphäre und der kosmischen Strahlung des Leerraums.
Man wies ihr eine Unterkunft zu, einen Würfel, der grob aus dem Eis gehauen war. Sie brachte ihre Besitztümer ins Quartier – Bücherchips, ein paar Kleidungsstücke, virtuelle Darstellungen eines Gammastrahlers und des Akkretionsrings eines Schwarzen Lochs. Die Habseligkeiten muteten archaisch und deplatziert an.
Die Wand – mit transparentem Kunststoff versiegeltes Triton-Eis – fühlte sich glatt und hart an unter Madeleines Hand. Nach der Weite des Neptun-Systems verspürte sie in Kasyapa sofort eine klaustrophobische Beklemmung.
Ben Roach wurde von der Familie mit Beschlag belegt, die er zu-rückgelassen hatte. Zwei neue Generationen waren in der Zwischenzeit herangewachsen: Neffen und Nichten, Großneffen und Großnichten.
Und da war natürlich noch Lena Roach. Sie war zu einer kleinen, bedächtigen Frau geworden, deren stilles Naturell von der Weisheit des Alters kündete. Sie hatte ihren Mann Ben seit hundert Jahren nicht mehr gesehen, für den größten Teil ihres langen Lebens. Aber sie hatte auf ihn gewartet und unter widrigsten Bedingungen ein Heim geschaffen.
Es zeigte sich sofort, dass trotz des Abgrunds der Zeit, der sie trennte, sie Ben noch liebte und er
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