Das Multiversum 2 Raum
Angetrieben wurde das Gefährt von Batterien, die von Solarzellen auf dem Dach geladen wurden. Außerdem war ein großer Wassertank auf dem Dach montiert. Am nächsten Tag quetschten sie sich zu dritt in die Karre und fuhren Richtung Westen.
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Nach ein paar Stunden kamen sie in einen Landstrich, der nicht ganz so öde wirkte. Madeleine sah grüne Vegetation, Bäume, Grasbüschel und Vögel. Sie erreichten einen flachen ausgetrockneten Wasserlauf. Lerner wendete im Flussbett und folgte seinem Verlauf. Sie kamen an etwas vorbei, das wie eine abgebrannte Farm aussah.
Sie nahmen eine sanfte Steigung, und Lerner ging vom Gas und ließ den Wagen fast geräuschlos rollen. Als sie sich dem höchsten Punkt der Erhebung näherten, stellte sie den Motor ab, und sie rollten durchs Trägheitsmoment des Fahrzeugs lautlos weiter.
Sie erreichten den Grat, und das Land breitete sich vor Madeleine aus.
Dort gab es Wasser, ein weites blaues Meer, das sich bis auf die halbe Distanz zum Horizont erstreckte. Damit hätte sie in dieser Einöde niemals gerechnet. Sie roch das Wasser förmlich. Durch irgendeinen primitiven Instinkt verbesserte ihre Stimmung sich schlagartig.
Und es dauerte eine volle Minute, bis die Augen sich an die Landschaft gewöhnt hatten und sie die Tiere sah.
Da war eine Herde von Tieren, die wie Rhinozerosse aussahen – richtige Ungetüme, die sich am Ufer suhlten. Aber sie hatten keine Hörner. Eins der Tiere hob seinen massigen Kopf, und sie sah kleine schwarze Knopfaugen. Es war ein hässlicher Anblick. Das Vieh hatte kleine, eigentümlich menschliche Füße, auf denen es davonstapfte.
»Diprotodons«, murmelte Leiner. »Von denen gibt es heute viele.«
Madeleine sah känguruartige Geschöpfe in allen Größen, bizarre, aufgeblasen wirkende Tiere, von denen manche so groß waren, dass sie kaum imstande schienen, sich überhaupt zu bewegen – aber sie sprangen mit behäbigen Hopsern umher. Es gab wie Faul-tiere anmutende Geschöpfe, bei denen es sich laut Lerner um gro-
ße Beutelratten handelte.
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Und es gab Raubtiere. Madeleine sah Rudel wolfartiger Tiere, die um die grasenden und trinkenden Pflanzenfresser herumschlichen.
Ein paar hatten Ähnlichkeit mit Hunden, andere mit Katzen.
»Es ist überall das gleiche«, sagte Lerner. »Das Grasland und die Wälder der gemäßigten Breiten ziehen sich vorm Eis zurück und werden durch Tundra, Steppe und Nadelwälder ersetzt.«
»Orte, die diesen rekonstruierten Kreaturen einen Lebensraum bieten«, sagte Ben.
»Ja. Die Gaijin sind aber nicht für alles verantwortlich. In Asien gibt es Rentiere, Moschusochsen, Pferde und Bisons. In Nordamerika erobern die Wölfe, Bären und sogar Berglöwen ihr Territori-um zurück.« Sie lächelte wieder. »Und im Tal der Themse soll es sogar wieder wuschelige Mammuts geben … Das möchte ich gern mal sehen.«
Sie saßen stundenlang da und beobachteten die grasenden Pflanzenfresser aus grauer Vorzeit.
Dann fuhren sie weiter, Stunde um Stunde.
Erst nachdem sie in Lerners Camp zurückgekehrt und aus dem Auto ausgestiegen waren, wurde Madeleine sich bewusst, dass sie den ganzen Tag kein einziges menschliches Wesen gesehen hatte, nicht einmal irgendwelche Anzeichen menschlicher Besiedlung.
■
Sie blieben für drei Tage. Allmählich schien Lerner sie zu tolerie-ren.
Am Ende des letzten Tages bereitete Lerner ihnen ein Abschieds-mahl. Während die Sonne sich zum Horizont senkte, tranken sie wiederaufbereitetes Wasser im Schatten von Lerners Zelt.
Sie erzählten sich Abenteuergeschichten. Lerner erzählte ihnen über die Venus, und die Gäste revanchierten sich mit der Ge-400
schichte von den Chaera, die im tödlichen Glühen eines Schwarzen Lochs lebten. Und sie unterhielten sich über die Veränderungen, mit denen die Menschheit konfrontiert worden war.
»Es wurden viele Worte gemacht«, sagte Lerner verdrossen.
»Flüchtlinge, Vertriebene, Diskontinuität, Hungersnot, Krankheit, Krieg. Tod in einem Ausmaß, wie wir es seit dem zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr erlebt hatten. Und doch werden noch immer Kinder geboren. Wisst ihr, wie hoch die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen heute ist?«
»Na?«
»Fünfzehn Jahre. Gerade einmal fünfzehn Jahre! Für die meisten Leute auf diesem Planeten ist das normal.« Sie wedelte mit der Hand und erwähnte die entvölkerte Stadt, das vom Eis veränderte Klima, die seltsamen rekonstruierten Tiere und die schemenhaften Blumen-Schiffe, die am Himmel ihre Bahn
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