Das Multiversum 2 Raum
würde ein Jahr warten müssen, auch wenn Kasyapas großes Palaver schließlich in die Akzeptanz des Programms münden sollte. Ben, der zwischen seiner verlorenen Familie und der Arbeit für die Kolonie hin-und hergerissen war, fand kaum Zeit für sie. Es gab hier nur wenige Menschen, kaum etwas zu tun und keine Abwechslung. Sie verbrachte viel Zeit allein in der Eis-Zelle, vertiefte sich in virtuelle Darstellungen und ging die elende Geschichte durch, die sie übersprungen hatte.
Es wäre gut, hier einmal rauszukommen. Sie nahm Lenas Einladung zu dem Spaziergang an.
Sie bestiegen eine Oberflächen-Zugmaschine, eine große Kuppel mit Ballonreifen.
Die Fahrt im sanft schaukelnden Gefährt verlief zunächst schweigend. Madeleine hatte das Gefühl, nackt über Tritons eisi-gem Boden zu schweben. Der Himmel war eine mit Sternen verzierte samtene Kuppel, und die verschleierte Wölbung des Neptun hing senkrecht über ihnen.
Lena war eine kleine, kompakte Frau mit bedächtigen und präzisen Bewegungen. Sie war gerade erst zwanzig gewesen, als Ben zum Sattelpunkt aufgebrochen war. Ihr Alter betrug nun über hundert-zwanzig Jahre, doch dank der Verjüngungs-Therapie sah sie aus wie vierzig. Aber sie verhielt sich nicht wie vierzig, sagte Madeleine sich. Sie verhielt sich ihrem wirklichen Alter entsprechend.
Der Boden war komplex. Im Scheinwerferlicht sah man rosige Flecken auf dem Eis, die wie Blutspuren anmuteten, und es zogen sich auch Streifen eines dunkleren Materials über die Oberfläche.
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Hier und da wurde das schmutzige Wassereis von weißen Tupfen überlagert, die im Licht glitzerten: Das war Stickstoff-Neuschnee.
Das Land wurde uneben. Das Fahrzeug erklomm eine niedrige Anhöhe, und Madeleine wurde in den Sitz gedrückt. Vom höchsten Punkt der Erhebung erhaschte sie einen Blick auf eine mit großen Kratern übersäte Landschaft, von denen jeder dreißig Kilometer oder mehr durchmaß. Aber sie sahen nicht aus wie Einschlagkrater, sondern hatten überwiegend eine ovale Form.
Die Zugmaschine rumpelte in den nächsten Krater. Der Boden war schrundig und zerklüftet wie gefrorener Schlamm, und das Fahrzeug holperte und hüpfte in großen Sätzen über dieses Gelän-de.
»Das ist das älteste Terrain auf Triton«, sagte Lena. »Es bedeckt vielleicht ein Drittel der Oberfläche. Aus dem Orbit sieht das Land wie eine Honigmelone aus, und danach wurde es auch benannt.« Sie hatte einen merkwürdigen, von der Zeit geprägten Akzent, der in Madeleines Ohren erstickt klang. »Bei diesen ›Kratern‹
handelt es sich in Wirklichkeit um kollabierte Blasen im Eis …
Wussten Sie eigentlich, dass Triton einmal flüssig war?«
»Nachdem er eingefangen wurde.«
»Ja.«
»Neptun verursacht starke Gezeiten auf Triton. Es gab ein Meer mit einer Tiefe von Hunderten von Kilometern, das an der Kon-taktfläche mit dem Vakuum von einer dünnen Eisschicht überzogen war und für eine halbe Milliarde Jahre flüssig und warm blieb, während die Umlaufbahn kreisförmig wurde.«
Madeleine betrachtete sie argwöhnisch. »Leben. Darauf wollen Sie hinaus. Eingeborenes Leben hier in der Gezeitenschmelze von Triton.« Wie Ben schon angedeutet hatte. Sie war weder erstaunt noch sonderlich interessiert. Leben entstand, wo immer es möglich war. Leben war ein Allgemeinplatz.
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»Wissen Sie«, sagte Lena, »nach unsrer Ankunft sind wir von Kasyapa über diese kleine Welt ausgeschwärmt.«
»Ihr habt Triton besungen.«
»Ja.« Lena lächelte. »Wir haben mit Lasern vom Orbit aus Stra-
ßen gebaut, und wir haben die Kantalupe-Senken, die Schneefelder und die Krater benannt. Wir waren voller Freude über diese neue Welt. Wir waren die Vorfahren! Doch dann wurden wir – entmu-tigt. Nichts regt sich hier. Hier ist nichts außer Eis, Schnee und Gas. Nichts lebt außer uns. Es gibt nicht einmal Knochen im Boden. Bald mussten wir Nahrung, Energie und Luft rationieren.
Wir haben das Land vom Orbit aus kartiert und Roboter ausgesandt.«
»Roboter singen nicht.«
»Ja. Aber es gibt hier auch nichts zu besingen.«
Aus einem plötzlichen Impuls heraus legte Madeleine die Hand auf Lenas. »Eines Tages vielleicht. Und vielleicht gab es Leben in der tiefen Vergangenheit.«
»Sie verstehen immer noch nicht«, sagte Lena und runzelte die Stirn. Sie tippte auf eine Schaltfläche, und der Motor drehte hoch.
Das Fahrzeug folgte komplexen Pfaden auf Höhenzügen und entfernte sich stetig von Kasyapa.
Sie unterhielten sich über alles
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