Das Multiversum 2 Raum
gewöhnlicher verdichteter Matsch. Sie war hochrein. Und sie schien geformt worden zu sein.
Nachdem sie zum Fahrzeug zurückgegangen waren, zeigte Lena Madeleine Diagramme und seismische Karten. Der Kern hatte Facetten – Dreiecke und Sechsecke –, die jeweils ein paar Kilometer durchmaßen. »Als ob jemand den Kern in einem riesigen Juwel eingefasst hätte«, sagte sie. »Und es muss geschehen sein, bevor der Mond erstarrt ist.«
»Jemand ist hier gewesen«, sagte Madeleine langsam, »und hat – durch die Manipulation der Temperatur und des Drucks in diesem tiefen Meer – diesen Käfig um den Meeresboden erschaffen.«
»Ja.«
»Und die dortigen Lebensformen …«
»Wurden natürlich sofort vernichtet, als sie von der Nährstoff-versorgung abgeschnitten wurden und die Zellen durchs Gefrieren platzten. Wir erkennen ihre Überreste in den Proben, die wir aus der Tiefe geholt haben.«
Madeleine spürte einen heißen Zorn in sich aufwallen. »Wieso sollte jemand so etwas tun?«
Lena zuckte die Achseln. »Vielleicht war es gar keine böse Absicht. Sie hatten vielleicht eine Mission gehabt – irre, aber eine Mission. Vielleicht glaubten sie, dass sie diesen primitiven Triton-Kreaturen einen Gefallen taten. Vielleicht wollten sie den Kreaturen den Schmerz des Wachstums, der Veränderung, der Evolution und des Todes ersparen. Diese große Kristallstruktur enthält kaum Informationen. Man braucht nur ein paar Bits, um die Zusam-420
mensetzung – reines Eis VIII – und die regelmäßige wiederkehrende Struktur zu beschreiben. Sie ist statisch, perfekt – gar unverwüstlich. Leben erfordert andererseits eine hohe Komplexität. Es ist diese Komplexität, der wir unser Potential, allerdings auch den Schmerz verdanken. Vielleicht hat es ihnen sogar Leid getan.«
Madeleine runzelte die Stirn. »Lena, hat Ben Ihnen gesagt, dass Sie mir das zeigen sollen? Versuchen Sie etwa, mich vom Nereide-Projekt abzubringen?«
»Ben und ich haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht«, sagte Lena. »Er ist zu den Sternen gereist und hat viele Dinge gesehen. Ich habe hier gearbeitet. Ich helfe mit, diese seltsame alte Tragödie zu enträtseln.«
Ja. Es bestand gar keine Notwendigkeit, zu den Sternen zu fliegen, wie Madeleine nun erkannte. Es war die ganze Zeit alles hier gewesen, auf der Venus, auf Triton und Gott weiß wo – sogar auf der Erde. Das zentrale paradoxe Mysterium des Universums. Überall spross Leben. Überall verging Leben. Und keine Erklärung, weshalb das so sein musste. Ein ewiger Kreislauf.
Sie wurde nun richtiggehend wütend. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Das hier entsprach einfach nicht dem, was Nemoto wollte. Es entsprach dem, was sie wollte. Und das war gut so.
Lena lächelte wissend.
Während sie nach Kasyapa zurückkehrten, wurden die Blumen-Schiffe an Tritons Himmel immer größer, bis sogar die zarten Fili-granstrukturen mit bloßem Auge erkennbar waren. Dieselben verdammten Gaijin, die zugesehen hatten, wie die Erde zum Teufel ging.
Sie flog in den Orbit, ging an Bord der Gurrutu und nahm Kurs auf Nereide.
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Madeleine sichtete Nereide nach zehn Tagen. Von Tag zu Tag, schließlich von Stunde zu Stunde wurde er immer größer, bis die zerklüftete graue Kruste die Sichtfenster ausfüllte.
Die Annäherung an den wirbelnden Fels war schwierig. Die Gurrutu war nicht zu der Geschwindigkeitsänderung imstande, die für eine Angleichung an Nereides rasante Rotation nötig gewesen wä-
re. Also musste Madeleine die Triebwerke zünden und diesen gro-
ßen steinernen Wal mithilfe von Leinen und Felshaken ›harpunie-ren‹, sodass das Schiff mitgeschleppt wurde.
Die Gurrutu wurde dabei erheblich beschädigt, aber auch nicht so stark, dass Madeleine hätte abbrechen müssen.
Sie ging in einen weiten langsamen Orbit und inspizierte die Oberfläche des Mondes. Nereide war reizlos: Nur eine hässliche Kugel aus schmutzigem Eis, die mit Kratern übersät war. Sie war so klein, dass sie nie geschmolzen war, wie Triton Schichten aus Gestein und Eis ausdifferenziert und eine Geologie entwickelt hatte. Nereide war ein Relikt aus der Vergangenheit, eine Ruine des geordneten Mondsystems, das beim Einfangen von Triton zerstört worden war.
Trotz der geringen Größe hatte Nereide fünf Prozent der Masse von Triton. Und wo Tritons Orbit retrograd, aber schön kreisförmig war, beschrieb Nereide eine weite, ausgreifende Ellipse: Es dauerte fast ein Erdjahr, bis der Mond einen seiner ›Monate‹
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