Das Multiversum 2 Raum
um Neptun vollendet hatte.
Nereide war ein nützliches Geschoss. Es würde frontal mit Triton zusammenstoßen.
Sie navigierte mit automatischen Sternenverfolgern, peilte Kasyapa im Dopplernavigationsverfahren an und benutzte noch einen Sextanten. Sie musste die Flugbahn des kleinen Mondes überwa-chen und unterstützte die automatisierten Systeme mit optischer Beobachtung, die nach wie vor zu den präzisesten bekannten Navi-gationssystemen gehörte.
422
Nereide war auf dem richtigen Kurs. Allerdings wurde diese interplanetare Billardpartie auf einem riesigen Tisch gespielt, und Triton war nur ein kleines Ziel. Trotz der geringen Entfernung war es immer noch möglich, dass Nereide das Ziel verfehlte.
Manchmal drohte die schiere Dimension des Projekts – eine Welt auf Kollisionskurs mit einer anderen zu schicken – sie zu überwältigen. Das ist eine Nummer zu groß für uns. Das ist ein Projekt für so arrogante Gesellen wie die Gaijin und die anderen, die die Venus und Triton vergewaltigt haben.
Wenn sie aber nah genug war, vermochte sie das Glühen der Triebwerke an Nereides Rückseite zu sehen: Triebwerke, die von Menschen gebaut und von Menschen dort angebracht worden waren. Die sie dort angebracht hatte. Sie hielt ihren Zorn am Brennen und schöpfte Kraft daraus.
Selbst jetzt diskutierte Ben noch mit seinen Leuten die ethischen Aspekte der Situation. Die meisten Kolonisten waren lang nach der Emigration geboren worden: Geborene der Höhlen von Kasyapa, die nun schon selbst Kinder hatten. Für sie waren Madeleine und Ben Roach Eindringlinge aus dem trüben Klecks im Herzen des Sonnensystems, Invasoren aus einer anderen Zeit, die ihre Welt zerstören wollten. Die Kürze des menschlichen Lebens, das ist unser Fluch, sagte sie sich. Jede Generation glaubt, sie sei unsterblich, aber sie ist in eine Welt hineingeboren worden, die sich noch nie geändert hat und sich auch nicht ändern wird.
Sie ging in ihre Schlafkabine, einen Kasten, der kaum größer war als sie. Nachdem sie sich aber in den Schlafsack gekuschelt und die Falttür zugezogen hatte, fühlte sie sich behaglich und sicher.
Sie würde Nereide so lang wie möglich verfolgen und ins Ziel bringen, es sei denn, sie bekam eine gegenteilige Anweisung.
Sie erhielt ein paar Direktrufe von Nemoto, die sie aber nicht entgegennahm. Nemoto war nun unwichtig.
In letzter Minute kam Ben durch.
423
Zu ihrem Erstaunen vernahm sie, dass die Kolonisten sich darauf geeinigt hatten, das Projekt weiterlaufen zu lassen. Ben würde die vorläufige Evakuierung der Kolonisten aus Kasyapa zu den alten Transportschiffen organisieren, die nun ohne ihre Triebwerke im Orbit schwebten.
»Lena ist erfreut«, sagte er ihr.
»Erfreut?«
»Über deine Reaktion auf die Kristallschale um den Kern. Das Eis VIII. Sie wollte dich provozieren. Wenn das Projekt Erfolg hat, dann wird die Kristallhülle zerstört. Und die letzten Spuren des eingeborenen Lebens werden sicher mit ihr zerstört.«
»Ich weiß, Ben«, knurrte Madeleine. »Ich habe es immer gewusst.
Die Triton-Lebewesen waren schon vor langer Zeit vom Weg abge-kommen, bevor sie überhaupt eine Chance hatten, sich bemerkbar zu machen. Die Erinnerung an sie sollte uns anspornen, nicht lähmen. Die Erbauer der Kristallkugel sind Vergangenheit, aber die Gaijin sind in diesem Moment hierher unterwegs. Zum Teufel mit ihnen! Wir haben hier eine Front eröffnet, und wir werden die Stellung auch halten.«
»Falls«, sagte er, »die Gaijin überhaupt der wahre Feind sind.«
»Im Moment sieht es jedenfalls so aus.«
Er lächelte traurig. »Du hörst dich schon an wie Nemoto.«
»Wir werden alle älter. Wieso hast du mir nichts über die eingeborenen Lebensformen erzählt, Ben?«
Seine virtuelle Abbildung zuckte die Achseln. »Nicht jeder, der hier geboren wurde, weiß darüber Bescheid. Das Leben ist auch so schon hart genug, ohne dass die Leute wissen, dass ein fremdes Artefakt unbekannten Alters im Herzen der Welt vergraben ist.«
Sie nickte. Ihre Frage hatte er aber nicht beantwortet. Trotz allem, was wir durchgemacht haben – obwohl wir beide Flüchtlinge aus einer anderen Zeit sind und zusammen zu den Sternen gereist 424
sind –, stehe ich dir nicht nah genug, um deine Geheimnisse zu teilen.
In diesem Moment spürte sie, wie die Bande zwischen ihnen sich dehnten und rissen. Nun bin ich wirklich allein, sagte sie sich; ich habe meinen einzigen Begleiter aus der Vergangenheit verloren. Sie war erstaunt, wie wenig es
Weitere Kostenlose Bücher