Das Multiversum 2 Raum
Manhattan standen noch. Sie ragten wie gebleichte Knochen über die Bäume empor, aber sie hatten keine Fenster mehr, und die Mauern waren von Ruß geschwärzt. Andere waren eingestürzt und lagen als skurrile Hügel unterm Grün. Die Brücken waren auch eingestürzt und hatten flache Wehre im Fluss hinterlassen. Er sah Füchse, Fledermäuse, Wölfe und andere Tiere, die vielleicht aus Wildgehegen ausgebrochen waren: Rotwild und Wildschweine.
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Ein paar Straßen schienen sich komischerweise in gutem Zustand zu befinden. Vielleicht funktionierte der Smart-Beton noch, der kurz vor seiner Abreise erfunden worden war. Aber der große mehrspurige Freeway, der aus Manhattan hinausführte, mutete Malenfant seltsam an: Ein verschlungenes Band auf grasüberwach-senem Beton. Vielleicht reparierte er sich nicht nur selbst, sondern wuchs und kroch wie ein riesiger Lindwurm durch die verlassenen Vorstädte – ein semiintelligenter Highway, den seit Jahrhunderten kein Auto mehr befahren hatte.
Einmal erkannte Malenfant etwas, das wie eine Jagdgruppe aussah. Sie pirschte am Ufer des verbreiterten Hudson entlang und stellte einem antilopenähnlichen Tier nach. Die Leute waren groß, nackt und hatten goldenes Haar. Ein Jäger schaute zum Himmel auf, als ob er Malenfant direkt ansähe. Es war eine Frau mit aus-druckslosen blauen Augen. Sie hatte einen monströsen Kropf. Ihr Gesicht wirkte auch irgendwie nichtmenschlich, sagte er sich.
Als Malenfant vor tausend Jahren die Erde verlassen hatte, hatte er keine direkten Nachkommen hinterlassen. Seine Frau Emma war gestorben, ehe sie eine Möglichkeit hatten, Kinder zu bekommen. Aber er hatte Verwandte gehabt: Einen Neffen und zwei Nichten.
Nun lebte kaum noch jemand auf der Erde. Malenfant fragte sich, ob irgendjemand dort unten noch Träger seiner Gene sein könnte. Und wenn ja, was aus ihnen geworden war.
In einer sentimentalen Anwandlung hielt er Ausschau nach der Freiheitsstatue. Vielleicht war sie an den Strand gespült worden wie in Planet der Affen. Es gab keine Spur von der alten Dame.
Aber er fand ein anderes Monument: Ein kilometergroßes Artefakt, einen riesigen Ring, der mitten aus Manhattan heraus gestanzt war. Er sah aus wie ein Teilchenbeschleuniger. Vielleicht hatte er etwas mit dem Kampf der Stadt gegen das Eis zu tun. Je-460
denfalls war er nicht menschlichen Ursprungs. Er war überdimensioniert.
Es gab noch weitere Anzeichen von Hightech-Anlagen, die über den Planeten verteilt waren; aber die schienen auch nicht von Menschen zu stammen. Als der Baum zum Beispiel über die Pyre-näen hinwegzog, die Berge an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, sah er ein Geflecht aus Licht, schnurgerade Linien aus rubinrotem Licht, die die Gipfel wie ein Spinnennetz verbanden. Der Monitor sagte ihm, dass es sich um kohärentes, also Laserlicht handelte. Es gab ähnliche Systeme in anderen Gebirgsre-gionen auf dem ganzen Planeten. Die Lasersysteme waren im Dauerbetrieb. Vielleicht regulierten sie irgendwie die Atmosphäre und verbrannten zum Beispiel Fluorkohlenwasserstoffe.
Und er beobachtete Blitze an verschiedenen Stellen um den Äquator, in der Wasserhemisphäre der Erde. Ein paar Minuten nach jedem Blitz wurde die Luft etwas diesiger. Er schätzte, dass es im globalen Maßstab etwa jede Minute blitzte. Er erinnerte sich an Pläne des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die Albedo der Erde – den Prozentsatz des in den Weltraum zurückreflektierten Sonnenlichts – zu erhöhen, indem man hochfeinen Staub in die Strato-sphäre schoss. Dazu hätten Schiffsgeschütze genügt. Der Zweck war die Reduzierung der Erderwärmung. Aber der Staub wäre ausgefällt worden: Man hätte alle paar Sekunden einen Schuss abgeben müssen, und das über Jahre hinweg – Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte. Die Idee hatte man damals für einen Witz gehalten. Jedoch würde ein solcher Staubeintrag die Zunahme der globalen Helligkeit erklären, die er beobachtet zu haben glaubte.
Das war Planeten-Engineering. Von hier aus sah er aber nur das große physikalische Schema. Vielleicht war unten auf dem Planeten mehr los: Nanotechnische Regulierungsmechanismen zum Beispiel.
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Irgendjemand reparierte die Erde. Malenfant hatte aber nicht den Eindruck, dass Menschen dahinter steckten. Das würde schließlich Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende dauern. Keine menschliche Zivilisation vermochte Projekte dieser Größenordnung abzuwickeln und hätte auch gar nicht die Möglichkeiten dazu. Also
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