Das Multiversum 2 Raum
Geschichte. Keinen Sinn für Veränderungen, für die Möglichkeit einer anderen Zukunft oder Vergangenheit.
Das Jahr nach Ihrem oder meinem Kalender mag 3265 sein. Aber die Erde ist nun zeitlos.« Er hustete und spie einen blutigen Schleimbrocken aus.
»Was ist mit Ihnen passiert, de Bonneville?«
Der Franzose grinste und wechselte das Thema. »Ich will Ihnen etwas über dieses Land erzählen. Wir sind wie die ersten europäischen Forscher, die im neunzehnten Jahrhundert hierher ins dun-kelste Afrika kamen. Und der Kabaka ist ein harter Knochen.
Wenn der Reisende zum ersten Mal in sein Land kommt, scheint sein Weg mit Blumen gepflastert. Er kann sich vor Geschenken kaum retten, er wird geehrt und hofiert, und jeder Wunsch wird unverzüglich erfüllt. Solang vom Fremden der Reiz des Neuen ausgeht und seine Fähigkeiten oder seine Vermögensverhältnisse noch nicht ausgelotet worden sind, ist es hier wie im Paradies.
Aber es kommt die Zeit, da er sich auch erkenntlich zeigen muss.
Vermögen Sie mir zu folgen?«
476
Malenfant ließ sich das durch den Kopf gehen. Die Rede von de Bonneville war blumiger, als Malenfant es gewohnt war. Allerdings war er auch zweihundert Jahre nach Malenfant geboren worden; in dieser Zeit konnte sich viel verändert haben. Obwohl er den Eindruck hatte, dass de Bonneville sich etwas zu stark in der ›Kom-munalpolitik‹ engagierte – wen interessierte schon dieser Kabaka?
–, ganz zu schweigen von seiner großen Verbitterung.
»Nein«, sagte er. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
De Bonneville wirkte frustriert. »Irgendwann müssen Sie dem Kabaka seine Gastfreundschaft vergelten. Tragen Sie Waffen, müssen sie diese abliefern; tragen Sie Ringe oder gute Kleidung, müssen Sie die auch abliefern. Und wollen Sie es nicht freiwillig rausrücken, gibt es andere Mittel und Wege, um Sie von überflüssigem Ballast zu befreien. Ihre Begleiter lassen sich von Mtesa kaufen und Sie im Stich. Und eines Tages werden Sie feststellen, dass Sie Ihrer ganzen Habe beraubt und hier gestrandet sind, tausend Kilometer von der nächsten unabhängigen Gemeinschaft entfernt.«
»Und das ist auch Ihnen passiert.«
»Als ich keinen Unterhaltungswert mehr für ihn hatte, zerrte der Kabaka mich vor sein Gericht. Und ich – habe ihn noch mehr enttäuscht. Und mit einem Kuss des Katekiro – Mtesas Adjutant – wurde ich zu einem Monat in der Maschine von Kimera verurteilt.«
»Eine Maschine?«
»Es ist eine Uranoxid-Mine. Ich gehörte zu den Niedrigsten der Niedrigen, Malenfant. Das Urteil hatte gesundheitliche Folgen, wie Sie sehen. Nach meiner Freilassung hat Mtesa – als der halbzivili-sierte Herrscher, der er ist – mir Arbeit am Gericht verschafft. Ich bin Buchhalter.
Und nun kommt etwas, das Sie sicher amüsant finden. Anhand der Erinnerungen an die Inka-Kultur identifizierte ich das hier verwendete System der Zahlendarstellung. Es entspricht dem quipu, wo Zahlen als Knoten in Schnüren dargestellt wurden. Der Kaba-477
ka hat sich diese Technik zunutze gemacht. Jeder Untertan seines Königreichs ist in Form von Zahlen erfasst: Geburtsdatum, Ver-wandtschaft durch Geburt und Heirat, der Inhalt der Kornspei-cher und Lagerhäuser. Es ist mir gelungen, ein Buchführungssys-tem zu entwickeln, das dem Mtesa beim Steuereintreiben unterstützt. Er erwies sich als überaus dankbar, und ich wurde wieder Favorit bei Hofe, wenn auch in einer anderen Eigenschaft.
Aber Sie erkennen die Ironie, Malenfant. Wir Reisenden kehren von den Sternen in diese elende post-technologische Zukunft zu-rück – eine Welt aus Analphabeten –, und ich bin Gefangener eines Reichs, das die Handlungen eines jeden Bürgers als nüchterne Zahlen registriert. Für Sie mag das wie der Garten Eden erscheinen; in Wirklichkeit ist es eine triste, seelenlose Metropolis!«
Die Aufrechten unterhielten sich lachend. Malenfant hörte ihre monotonen, plappernden Stimmen.
»Ihre Sprache ist einfach«, sagte Malenfant.
»Ja. Direkt und gegenständlich. Süß, nicht wahr? Etwa auf dem Niveau eines sechsjährigen Kindes.«
»Wer sind sie, de Bonneville?«
»Kommen Sie denn nicht von selbst drauf? In ihrer Gegenwart läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Körperlich sind sie natürlich schön. Die Frauen sind willig … Hier. Noch etwas pombe?«
»Nein.«
Sie saßen in der kühlen Nacht, ein alter Mann und ein Invalide, die in der Zeit gestrandet waren. Und in der Ferne versammelten die großen und eleganten Aufrechten sich
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