Das Multiversum 2 Raum
gelingt, sich seinen Tod zunutze zu machen.«
»Das müssen Sie wohl glauben«, murmelte Madeleine.
»Ja. Ja, das muss ich.«
Nemotos Verhalten mutete seltsam an – selbst für ihre Verhältnisse: Zu cool, zu überlegt; zu optimistisch, sagte Madeleine sich.
Madeleine wusste, dass kein Mensch über tausend Jahre zu existieren vermochte, ohne den überfrachteten Kopf von unnötigem Erinnerungsballast zu befreien. Nemoto musste eine Möglichkeit gefunden haben, die Erinnerung zu bearbeiten, zu minimieren 627
und sogar zu löschen – ein Vorgang, der sich natürlich auch auf ihre Persönlichkeit auswirkte.
Vielleicht hatte sie versucht, sämtliche Erinnerungen an Malenfant zu löschen und die Schuld zu vergessen, die sie durch den Verrat an ihm auf sich geladen hatte. Nur deshalb vermochte sie diese Sache so distanziert zu betrachten.
Und selbst wenn dem so war, hatte sie nur einen Teilerfolg erzielt. Weil sie bei dieser Aktion gegen die Zerstörer, wie auch immer sie aussieht, nämlich auf der Strecke bleiben wird, wurde Madeleine sich bewusst.
Und diese Aussicht macht Nemoto froh.
■
Madeleine sprach mit Carl ap Przibram und versuchte ihn dazu zu bewegen, Nemotos Ratschlag zu beherzigen. Das war nicht leicht, weil sie selbst nicht über die Einzelheiten von Nemotos Plan informiert war. Doch schließlich zeigte er sich einsichtig und verschaffte ihr einen Auftritt vorm Obersten Rat der Koalition.
Es war eine unerfreuliche Sitzung. Sie fand in einer muffigen Höhle statt, die mit hundert Delegierten aller Flüchtlings-Fraktionen angefüllt war, die gegen ihren Willen in die Unterwelt des Merkur gepfercht waren. Sie sah ein paar relativ kräftige Gestalten, aber hauptsächlich Varianten des spindeldürren Niedergravitations-Typs. Und dann gab es noch eine Anzahl von Delegierten, die an die Schwerelosigkeit und sogar an exotische Atmosphären angepasst waren – diese Leute nutzten Umwelttanks, Rollstühle und andere Hilfsmittel.
Sie schaute in Reihen von Gesichtern, in denen sich Misstrauen, Furcht, Egoismus und sogar Verachtung spiegelten. Es würde nicht leicht werden. Dann entdeckte sie im höchsten Regierungsgremi-628
um eine Frau von den Triton-Transporten, die schließlich doch ei-ne Landeerlaubnis bekommen hatten. Diese Leute waren schwierig, reserviert, abergläubisch und furchtsam. Doch selbst in diesen schlechten Zeiten nahmen sie Flüchtlinge auf und räumten ihnen sogar einen Ehrenplatz ein.
Das machte sie irgendwie stolz. Das hätten die Gaijin studieren sollen, sagte sie sich. Und nicht die Geheimnisse unsres Genoms.
Diese Eigenschaft: Selbst wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen, geben wir nicht auf und heißen sogar noch Fremde willkommen.
Sie hielt ihren Vortrag. Dann stellte sie sich für eine gute Stunde den Fragen des Publikums. Sie hatte nicht immer Antworten, aber sie meisterte die Situation souverän und versuchte die Leute durch ihren unerschütterlichen Glauben und ihre Entschlossenheit zu überzeugen.
Sie vermochte nicht jeden zu überzeugen. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen. Doch am Ende erklärten Fraktionen, die insgesamt etwa sechzig Prozent der Bevölkerung des Planeten ausmachten, sich mit Nemotos Plan einverstanden.
Ungemein erleichtert ging Madeleine in ihre Unterkunft und schlief zwölf Stunden durch.
■
Die Evakuierung ging schnell über die Bühne.
Die Reste der Menschheit waren so weit wie möglich ins Sonnensystem zurückgewichen, also auf Merkur. Und nun rückten sie noch einmal zusammen, bewegten sich per Bahn, Transporter oder Landungsfähre über die Oberfläche des Merkur und sammelten sich im großen Becken von Caloris Planitia: Der zertrümmerten 629
Region, wo Menschen unter einer hohen und erbarmungslosen Sonne nach Wasser gebohrt hatten.
Zwischenzeitlich reihte das letzte Geschwader der riesigen interstellaren Flotte von Zerstörer -Segelschiffen sich in die dichten, komplexen Orbits um den Merkur ein: Die Bienen strebten zum Honig, genau wie Nemoto gesagt hatte. Daten wurden in rauen Mengen und unverschlüsselt zwischen den Zerstörer -Einheiten ausgetauscht, sodass sie sogar von den in Deckung liegenden Menschen verstanden wurden. Diese Aliens glaubten ganz offensichtlich, freie Bahn zu haben, nachdem die Gaijin abgezogen waren.
Vielleicht würden die Zerstörer tausend Jahre brauchen, um ihr Werk zu vollenden. Vielleicht würde es tausend Jahre dauern, vielleicht aber auch nur tausend Stunden. Niemand wusste es.
Madeleine
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