Das Multiversum 2 Raum
nicht? Wir sind schließlich aufrecht gehende Tiere, wir Menschen.«
Malenfant nahm einen Seesack an sich, der seinen alten Raumanzug enthielt – die Lumpen, mit deren Ausbesserung sie auf der Kanonenkugel stundenlang beschäftigt gewesen war. In einer Anwandlung von Ordnungsliebe verwischte er die in den Boden gekratzte Sternkarte. Dann brachen sie auf.
Sie kamen an der Neandertaler-Sippe vorbei, die noch immer am selben Ort wie gestern verharrte.
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Als Madeleine sich umschaute, saßen die Neandertaler noch immer reglos da – während die Menschen sich entfernten und die Sterne über ihnen dahinströmten.
■
Als sie das nächste Mal aufwachte, stand nur noch eine einzige Lichtquelle am Himmel. Es war eine kleine Scheibe, heller als der Vollmond, aber schwächer als die Sonne von der Erde aus gesehen.
Sie hatte einen deutlichen Blaustich.
Davon abgesehen war der wolkenlose Himmel völlig leer.
Malenfant stand vor ihr und schaute ins Licht. Hinter ihm sah sie Neandertaler, einen Familienverband, der auch ins Licht schaute. Sie hatten die klobigen Köpfe in den Nacken gelegt. Schatten flohen vorm Licht, Schatten von Menschen und Bäumen, stetig und dunkel.
Sie stellte sich neben Malenfant. »Was ist das? Sterne?«
Er schüttelte den Kopf. »Die Sterne sind durch die Blauverschiebung alle unsichtbar geworden.«
»Was dann …«
»Ich glaube, das ist das Nachglühen.« Die Hintergrundwärme des Universums, die vom Urknall übrig geblieben ist und ein paar Grad über dem absoluten Nullpunkt liegt. »Wir sind nun fast so schnell wie das Licht, sodass selbst dieses Nachglühen durch die Aberration verzerrt und zu einer kleinen Scheibe zusammengepresst wird. Ein seltenes Naturschauspiel, findest du nicht …« Er hielt sich die Hand vors Gesicht und blendete die Universums-Sonne aus. »Ich erinnere mich noch, wie ich damals von der Erde zum Sattelpunkt aufgebrochen bin. Dort angekommen schaute ich mich um und sah, dass die Erde zu einem Lichtpunkt geschrumpft war, der noch kleiner war als dieser. Mein ganzes Wissen 655
– über fünf Milliarden Jahre Geologie und Biologie, über Konti-nentalverschiebung, Meere und Pflanzen, Dinosaurier und Menschen –, all das steckte in einem Licht-Splitter, der von Nichts umgeben war. Und nun ist das ganze verdammte Universum, mit Sternen, Galaxien, Aliens und so weiter in diesem Lichtklecks enthalten.«
Er sagte ihr, dass sie womöglich auf einer Antimaterie-Rakete ritten.
»Das würde auch erklären, was die Gaijin auf Io getan haben. Sie haben die Energie der Jupiter-Magnetosphäre angezapft. Wahrscheinlich haben sie den Mond in einen großen Teilchenbeschleuniger verwandelt und die Antimaterie aus den Trümmern ge-klaubt.« Bei der Antimaterie-Rakete handelte es sich vielleicht um eine so genannte Strahlenkern-Maschine, spekulierte er. »Das Prinzip ist ganz einfach. Man braucht nur Tanks mit Atomen und An-ti-Atomen – wahrscheinlich Wasserstoff, und der Anti-Kram steckt in einer Magnetfalle –, und dann leitet man die Komponenten in eine Düse, wo sie explodieren. Aus den Elektronen entstehen Gammastrahlen, und aus den Atomkernen Pionen, alles hochenergetisches Zeug, und die geladenen Pionen kommen quasi zur Düse heraus … Es gibt aber noch andere Möglichkeiten. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Konstruktion der Gaijin besonders hochentwickelt ist.«
»Die Gaijin müssen aber sehr lang gebraucht haben, um die erforderliche Antimaterie zu gewinnen. Das war wohl ein gewaltiges Projekt.«
»Ganz sicher. Allein schon der Transport der Supraleiter-Kabel von der Venus und so weiter. Ein enormer Aufwand.«
»Aber«, sagte Madeleine dezidiert, »es ist unmöglich, all das …«
Sie deutete auf die Ebene mit den Bäumen. »… ein Schiff von der Größe eines kleinen Mondes bis zum Kern der Galaxis auf relativistische Geschwindigkeiten zu beschleunigen. Oder?«
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Er schaute in den Himmel. »Ich kenne eine Studie, die besagt, dass man hundert Tonnen Antimaterie brauchte, um einen einzigen Astronauten nach Proxima Centauri zu befördern. Damals hätte unser größter Teilchenbeschleuniger zweihundert Jahre gebraucht, um nur ein Milligramm zu produzieren. Ich bezweifle, dass das, was auch immer die Gaijin auf Io gebaut hatten, um so vieles fortschrittlicher war. Also lautet die Antwort ›nein‹, Madeleine. Das ist mit einen kleinen Mond nicht zu machen.«
Sie betrachtete ihre Hand und zwickte sie. Sie spürte den Schmerz. »Was sind wir,
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