Das Multiversum 2 Raum
hatte ein elastisches, faserartiges Inneres.
Die Blätter und der Baumstamm bestanden aus einer Art Naturkunststoff – vielleicht eine Art PVC, Polyvinylchlorid. Wenn er die Blüte zu riechen vermocht hätte, dann wäre ihm sicher ein Gestank wie von Giftmüll in die Nase gestiegen.
Es war die Karikatur eines Baums, ein Gebilde aus Plastik und Industrieabfall. Und doch wurde es überzeugend vom Wind zer-zaust, und das grün-schwarze Gras war mit Sonnenlicht gesprenkelt.
Kassiopeias Stimme drang an sein Ohr. Sie hielt ihm aus dem Orbit einen Vortrag über Biochemie. DIE LEBENDIGEN DINGE HIER
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SIND AUS ZELLEN AUFGEBAUT – ANALOG ZU LEBENDIGEN DINGEN
AUF DER ERDE, ZU DIR. DER MENSCHLICHE METABOLISMUS VERTRÄGT DAS CHLOR NICHT. ABER DIE LEBENSFORMEN HIER HABEN EINEN SCHUTZ AUF DER ZELLULÄREN EBENE ENTWICKELT …
Er unterbrach den Vortrag. »Es gibt hier Bäume«, sagte er. »Gras.
Blumen. Tiere.« Du siehst Biochemie. Ich sehe eine Blume.
Es trat ein langes Schweigen ein.
Das war die Gaijin-Betrachtungsweise der Realität: Von den Gleichungen der Quantenmechanik zum Getriebe einer Welt. Aber das entsprach nicht Malenfants Mentalität. Die Menschen schienen eher als die Gaijin imstande zu sein, größere Zusammenhänge zu erfassen und Simplizität von Komplexität zu unterscheiden. Dieses Objekt vor Malenfant war kein Baum, weil Bäume nur auf der Er-de wuchsen. Aber es half Malenfant, in diesen Kategorien zu denken, Muster zu suchen und sie in bekannte Begrifflichkeiten zu überführen.
Die Gaijin lernten allmählich, seine Denkweise zu imitieren.
JA, kam die Antwort, ES GIBT BÄUME.
»Kassiopeia. Wieso hast du mich auf diese chlorverseuchte Müll-kippe gebracht?«
UM MEHR DATEN ZU SAMMELN, MALENFANT.
Malenfant schaute grimmig gen Himmel.
Die Gaijin schienen ihn aus Zwecküberlegungen erziehen zu wollen. Sie hatten ihm Welten gezeigt, die sehr verschieden waren, aber auch eins gemeinsam hatten: Sie trugen Leben. Und auf die eine oder andere Art waren sie alle beschädigt.
Er gelangte allmählich zu der Ansicht, dass die Gaijin das Universum als ein mächtiges Computerprogramm betrachteten, einen Algorithmus zur Erzeugung von Leben und vermutlich auch Intelligenz, wo immer und wann immer das möglich war.
Das Problem war nur, dass das Programm Fehler hatte.
Er grunzte. »In Ordnung. Wo? Wie?«
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GEHE EINEN KILOMETER IN RICHTUNG DER SONNE.
Er murmelte einen Fluch. Dann sog er kühles Wasser aus einem Röhrchen in der Kapuze, um den Schwimmbad-Geschmack des Chlors loszuwerden und setzte sich in Bewegung.
Und lang bevor er den Kilometer bewältigt hatte, stieß er auf Leute.
■
Es war eine große Gruppe, hundert oder mehr, die sich um etwas versammelt hatten, das wie ein Loch im Boden aussah. Sie bewegten sich in einer Art Tanz, einer Art Quadrille, die von einem leisen Murmeln unterlegt wurde, das wie das Raunen des Winds klang.
Die meisten Tänzer schienen ungefähr seine Größe zu haben.
Ein paar waren größer, aber die meisten waren viel kleiner – Kinder? Oder die Alten, vom Alter gebeugt?
Es waren natürlich keine Menschen. Aber Leute.
Er ließ den Blick schweifen und suchte nach einer Deckung.
Kassiopeia beruhigte ihn.
ES BESTEHT EINE PERZEPTORISCHE FEHLFUNKTION, MALENFANT.
Sie können dich nicht sehen.
»Wieso nicht? … Ach so. Captain Cook.«
KOMMUNIKATIVE FEHLFUNKTION.
Es wurde die Geschichte überliefert — wahrscheinlich apokryph –, dass die Bewohner einer der Inseln, die Cook besuchte, nicht imstande gewesen wären, seine großen Schiffe zu sehen. Sie waren nie zuvor solch großer schwimmender Artefakte ansichtig geworden. Erst als Cooks Besatzung in Beibooten anlandete, begriffen die Eingeborenen den Vorgang.
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Also war Malenfant einfach nur ein zu fremdartiges Element in der Welt der Tänzer, als dass sie ihn wahrgenommen hätten.
»… Ist egal. Menschen unterliegen diesen Beschränkungen auch.«
Mutig ging er weiter und nahm die Szene in Augenschein.
Einer der Tänzer fiel ihm auf. Sie (das legte er spontan fest) stand aufrecht. Sie hatte einen klar definierten Rumpf und Kopf sowie obere und untere Gliedmaßen. Allerdings in dreifacher Aus-fertigung – drei Arme und drei Beine –, wobei sie die gelenkigen Glieder auf eine Art und Weise schwenkte und krümmte, die er als enervierend empfand. Sie ging auch nicht in dem Sinn, dass sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert hätte. Vielmehr wirbelte sie wie eine Ballerina herum, wobei die
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