Das Multiversum 2 Raum
trennte, sah sie schemenhafte Gebilde: sich abwechselnde 200
Bänder aus Hell und Dunkel in Gestalt dunstiger Bögen. Und in der Nähe des Äquators schien es gelbe Punkte zu geben, die etwas dunkler waren als der Hintergrund. Aber diese Einzelheiten waren keine Bodenmerkmale. Die Schlieren und Wirbel waren Ausprä-
gungen der seltsamen, komplexen Strukturen der dichten Wolkendecke der Venus – vielleicht spielten die Augen ihr aber auch nur einen Streich, während sie diese dicke Luftschicht zu durchdringen versuchte.
Nun erreichte sie den Scheitelpunkt der schleifenförmigen Flugbahn und tauchte tief in den Schatten des Planeten ein; die Sichel wurde immer schmaler, bis sie schließlich auf einen leuchtenden Strich in der Dunkelheit reduziert wurde. Als die Sonne die Wolkendecke bestrich, ging plötzlich die Sonne unter, und die sanft gewölbten Schichten in den Wolken trübten sich von Weiß zu einem gelblichen Orange ein. Und dann legte sich ein schwacher, gespenstischer Ring aus Licht um den ganzen Planeten: Sonnenlicht, das in der dichten Luft gebrochen wurde.
Nachdem die Augen sich an die Dunkelheit angepasst hatten, sah sie, wie der Reihe nach die Sterne aufgingen und diesen Ring aus Dunkelheit einfassten. Ein gelb-orange glühender Stern wanderte jedoch wie ein Ausreißer über den Äquator der schwarzen Scheibe. Das war ein Gaijin-Schiff aus der kleinen Flotte, die ihr den ganzen Weg vom Mond bis hierher gefolgt war.
»Die Wolkendecke der Venus«, flüsterte Nemoto, deren Stimme durch die schlechte Funkverbindung wie das Rascheln von trockenem Herbstlaub klang. »Ich beneide Sie, Carole.«
Carole grunzte. »Ein weiterer Schritt für die Menschheit im All.«
Sie wartete die langen Minuten, während ihre in Laserlicht codier-ten Worte das innere Sonnensystem zum Erdmond durchliefen.
»Sie sind despektierlich«, antwortete Nemoto schließlich. »Ihre Aussage wird der Bedeutung der Sache nicht gerecht. Wissen Sie, ich bin in der Nähe eines Schienenstrangs aufgewachsen, einer 201
Verkehrs-Hauptschlagader. Nachts habe ich immer die Signale der Güterzüge gehört. Meine Eltern hatten in der Stadt gelebt und ein ereignisloses Leben in festgefügten Bahnen geführt. Aber die Züge haben mich jede Nacht daran erinnert, dass es Fahrzeuge gab, die mich in die weite Welt hinauszutragen vermochten.
Die Gaijin machen mir Angst. Aber wenn ich ihre großen Schiffe am Nachthimmel ihre Bahnen ziehen sehe, werde ich wieder vom Geist der Wanderlust gepackt, die ich als Kind genossen oder erlitten habe – wie man's nimmt. Ich beneide Sie um Ihr Abenteuer, mein Kind …«
Unglaublich, sagte Carole sich. Da bin ich nun hundert Millionen Kilometer gereist, ohne ein Wort von dieser alten Schachtel zu hören, und ausgerechnet jetzt will sie einen Seelenstriptease vor mir machen.
Sie drehte sich im All um und schaute zum Schiff zurück, das aus einem Sammelsurium von Teilen zusammengestoppelt war: Ein Zylinder, bauchige Tanks, ein Konus, eine große regenschirm-artige Abdeckung und ein steinerner Schild waren an einem aus Mondaluminium gefertigten Gitterrohrrahmen montiert. Der massive Schild bestand aus grauem Mondgestein, das aber stark versengt und zum Teil abgeschmolzen war. Er hatte sie beim Erreichen der Venus geschützt, als das Schiff im Sturzflug in die obere Atmosphäre eintauchte und die hohe interplanetare Reisegeschwindigkeit aufgezehrt und in Reibungshitze umgewandelt wurde. Der große zentrale Zylinder war das Wohnmodul, der überfüll-te Kasten, in dem sie den langen Flug hierher abgeritten hatte. Das Habitat hatte eine Raketentriebwerks-Einheit im Schlepptau, um deren klaffende versengte Düse sich glänzende Röhren rankten, da-zu große Wasserstoff-und Sauerstofftanks mit elastischen Wänden. Mit diesem Brennstoff würde sie aus dem Venusorbit aussche-ren und den Rückflug zum Erdmond antreten. Ein großer hauchdünner Schirm spannte sich an langen Streben über die Kompo-202
nenten. Der Schirm, der mit juwelenartig funkelnden Solarzellen besetzt war, diente zugleich als Sonnenschirm, Sonnenkollektor und Hochleistungsantenne.
An der Seite des Wohnmoduls hing das Landungsboot, ein kompakter silbriger Kegel mit einem massiven Hitzeschild. Das Lan-dungsfahrzeug hatte die Größe und Form einer alten Apollo-Kom-mandokapsel. Das kleine Fluggerät würde sie durch die Wolken der Venus auf die darunter verborgene Oberfläche bringen, sie für ein paar Tage am Leben erhalten und dann – nachdem es aus der
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