Das Multiversum 2 Raum
versprochen.
Carole war skeptisch gewesen. Schließlich würde sie nur zur Venus fliegen, ein Katzensprung im Vergleich zu den lichtjahrelan-gen Reisen einer Handvoll Raumfahrer, die Reid Malenfant durch die großen Sattelpunkt-Tore gefolgt waren – auch wenn zwanzig Jahre nach der Abreise von Madeleine Meacher, die den Anfang gemacht hatte, noch keiner von ihnen zurückgekehrt war.
Trotzdem sollte Nemoto recht behalten. Dass Nemoto das unerklärte Embargo der Gaijin gegen die Venus subtil unterlief, war offensichtlich auf Resonanz gestoßen. Carole hatte eine Bekanntheit erlangt, durch die sich ihr lukrative Möglichkeiten erschlossen, die sie auch konsequent nutzte.
Aber es war letztlich doch nicht das Geld, weshalb Carole drei Jahre ihres Lebens diesem Bravourstück opferte.
»Denken Sie an Ihre Mutter«, hatte Nemoto geflüstert und das maskenhafte Gesicht zu einem Lächeln verzogen. »Sie wissen, dass ich ihr einmal auf einem Seminar in Washington begegnet bin.
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Reid Malenfant selbst hatte uns einander vorgestellt. Sie war von der Venus fasziniert. Sie hätte es geliebt, eine fremde Welt zu besuchen.«
Schuld war die Triebfeder.
Dennoch hatte Nemoto recht. Ihre Mutter hatte sich geradezu in die Venus verliebt, in diese komplexe, missratene Schwester der Er-de. Sie erzählte ihrer Tochter immer phantastische Gutenachtge-schichten darüber, wie es wäre, diese mächtigen sauren Wolken zu durchstoßen und in einen Ozean aus Luft getaucht auf der Venus zu stehen.
Allerdings hatten die Studien ihrer Mutter auf spärlichen Daten beruht, die von ein paar automatisierten Sonden übermittelt worden waren, die menschliche Regierungen vor der Jahrhundertwende und vor dem Erscheinen der Gaijin zur Venus geschickt hatten.
Mit der Ankunft der Gaijin waren diese Aktivitäten natürlich eingestellt worden.
Nun flogen die Menschen in Blumen-Schiffen der Gaijin zum Mars, Merkur und sogar zu den Jupitermonden. Wo die Gaijin ihnen Zugang gewährten, schwoll das Wissen der Menschen durch eine Datenflut explosionsartig an. Aber die Gaijin waren ganz offensichtlich die Herren des Verfahrens, was in der wissenschaftlichen Gemeinschaft große Frustration erzeugte. Die Wissenschaftler wollten alles sehen und nicht nur das, was die Gaijin ihnen zu zeigen geruhten.
Und auf manche Dinge hielten die Gaijin den Daumen drauf.
Vor allem auf die Venus. Die Gaijin hatten bisher keinen einzigen Menschen zu einem Flug zur Venus eingeladen, obwohl aus Beobachtungen der Blumenschiff-Aktivitäten deutlich hervorging, dass die Venus ein wichtiger Beobachtungsposten für die Gaijin war.
Nicht dass viele Leute sich um solche Dinge geschert hätten.
Sein ganzes Leben mit diffiziler wissenschaftlicher Kleinarbeit zu verbringen, wo man doch auf den viel größeren Wissensfundus 209
der Gaijin zuzugreifen vermochte, war eine triste Aussicht. Carole war nicht in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Sie hatte sich stattdessen der Theologie verschrieben, einer akademischen Diszi-plin, die zu neuer Blüte gelangt war. Und ihre Mutter war mit enttäuschten Hoffnungen gestorben und hatte Carole mit der Bürde einer diffusen Schuld zurückgelassen.
Carole hatte vielmehr den Eindruck, dass diese Themen – der Niedergang der Wissenschaften, die obskuren Aktivitäten und Ambitionen der Gaijin – die Sorge eines vergangenen Jahrhunderts und früherer Generationen waren. Man schrieb das Jahr 2081: Sechzig Jahre, nachdem Nemoto die Gaijin entdeckt hatte. Carole war praktisch mit den Gaijin aufgewachsen und betrachtete ihre Anwesenheit als eine Selbstverständlichkeit. Also hatte sie die Schuldgefühle ihrer Mutter gegenüber abgelegt, wie auch andere Kinder sich von ihren Müttern abnabeln.
Bis Nemoto ihr über den Weg gelaufen war.
Nemoto: Selbst ein skurriles historisches Relikt, von kaum be-greifbaren Obsessionen angetrieben, das sich auf dem Mond ver-schanzt hatte und den gebrechlichen Körper mit immer raffinier-teren Anti-Alterungs-Techniken funktionsfähig hielt. Nemoto wet-terte ständig gegen die Gleichgültigkeit, mit der Regierungen und andere Körperschaften die Gaijin betrachteten. »Wir haben kein Geschichtsbewusstsein mehr«, pflegte sie zu sagen. »Wir haben den Schock nach der Entdeckung der Gaijin überwunden. Wir sehen keine Anzeichen einer langfristigen Entwicklung. Vielleicht glauben die Gaijin, dass wir wegen unsrer kurzen Lebensspanne keine größeren Zusammenhänge erkennen. Aber diejenigen unter uns, die sich noch an
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