Das Multiversum 3 Ursprung
verwüsteten Küstengebieten ins Landesinnere geflohen. Die Überschwemmun-gen, Flutwellen und Erdbeben hatten unzählige Todesopfer gefordert – und es würde noch viel mehr geben, weil unter den Flücht-lingen Seuchen ausbrachen, die Ernten durch die Flut vernichtet waren und Kriege um die restlichen Vorräte ausbrachen.
Während die Polarmeere in Aufruhr gerieten, lösten sich riesige Eisberge von den antarktischen Schelfs und den Gletschern Alas-kas und Grönlands. Die größeren Eisberge brachen im aufgewühlten Meer auseinander, doch viele kamen bis zum Äquator und stellten ein weiteres Hindernis für die Schifffahrt dar, die sowieso nur noch eingeschränkt möglich war. Deshalb waren Eisberge wie dieser ein normaler Anblick an allen Küsten des Atlantik und Pazifik. Manchmal dienten sie als Wasserreservoirs, um die zusam-mengebrochene Wasserversorgung zu ersetzen. Nichts ist so 96
schlimm, dass es nicht auch ein Gutes hätte, sagte Malenfant sich verdrossen.
Er zog den verschwitzten Jogginganzug aus und lief nackt in die Brandung. Das Wasser an der Küste war durch die Flut mit Tiefen-wasser vermischt worden und eiskalt und salzig; es brannte in den Augen und auf dem Narbengewebe des heilenden Arms. Er wagte sich nicht allzu weit hinaus, denn er spürte eine starke Unterströ-
mung beim Zurückweichen des Meers.
Er schwamm ins Meer hinaus. Dann ließ er sich rücklings treiben und beobachtete den Himmel und seine Reflexe im aufgewühlten Wasser.
Der Rote Mond hing dick und fett über ihm am Himmel. Obwohl er sich (irgendwie) in der gleichen Umlaufbahn wie der alte verschwundene Mond eingerichtet hatte, wies er mehr als den doppelten Durchmesser und die fünffache Oberfläche des alten Monds auf – und wegen der reflektierenden Wolken und Meere war er auch um ein Vielfaches heller.
Und an diesem Morgen war der Rote Mond blau. Die ihm zuge-wandte Hemisphäre zeigte ein großes, mit Inseln gesprenkeltes Meer, blauschwarz und mit Wolkenspiralen überzogen. Am Nord-und am Südpol leuchteten weiße Eiskappen. Der Nordpol des Roten Monds war der Erde um etwa zehn Grad zugeneigt, und Malenfant erkannte ein riesiges Hochdrucksystem über dem Pol, einen cremigen Wolkenwirbel. Der Äquator wurde jedoch von dunklen Bändern umspannt, Ruß- und Rauchwolken.
Trotz der persönlichen Feindschaft, die Malenfant gegen den neuen Mond hegte, musste er zugeben, dass er wunderschön war.
Er sah sogar aus wie eine Welt: Dreidimensional mit der atmosphärischen Trübung über der von der Sonne beschienenen Seite, und die gerunzelte Meeresoberfläche leuchtete im Widerschein der Sonne wie eine riesige Bowlingkugel. Die arme Luna war so stau-97
big gewesen, dass sie im Streulicht nicht räumlicher gewirkt hatte als ein bemalter Essteller.
Malenfant hatte sich aus verständlichen Gründen über die Erforschung des Roten Monds auf dem Laufenden gehalten.
Der neue Mond drehte sich, relativ zur Erde, mit einem ›Tag‹
von etwa dreißig Stunden um seine Achse – ganz anders als die schmerzlich vermisste Luna –, so dass irdische Beobachter in den Genuss des Anblicks beider Seiten kamen. Die andere Hemisphäre wurde von der größten Landmasse der kleinen Welt dominiert: Ein Superkontinent, wie manche sie bezeichneten, ein annähernd kreisförmiger Insel-Kontinent mit einem roten Zentrum wie gebrannte Ziegel und gesäumt von graugrünen Schlieren, die vielleicht Wälder darstellten. Der Rote Mond war hemisphärisch asymmetrisch und glich damit eher dem Mars und Luna als der Erde oder der Venus.
Dieser große Kontinent war mit großen, stark erodierten Ein-schlagkratern übersät: Für Malenfant hatten sie eine erfreuliche Ähnlichkeit mit dem echten verschollenen Mond. Und die Mitte des Superkontinents wurde von einem einzelnen Riesenvulkan markiert, der deutlich über die Atmosphäre hinausragte. Die riesigen flachen Flanken wurden beim Blick durchs Teleskop durch (mutmaßliche) Ringe aus Vegetation in Höhenzonen unterteilt, gefolgt von mutmaßlichen Gletschern und zuletzt von nacktem Fels, was beim irdischen Betrachter den Eindruck einer Zielscheibe er-weckte. (Diese Bezeichnung hatten die Kommentatoren dem Berg dann auch verliehen.)
Der größte Fluss des Roten Monds entsprang an der Flanke der Zielscheibe. Vielleicht hatte die emporsteigende Magma Wasser führende Schichten angehoben. Oder vielleicht wurde der am Berg aufsteigenden Luft in der großen Höhe auch die Feuchtigkeit entzogen. Auf jeden Fall
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