Das mysteriöse Pergament 01 - Begegnungen (German Edition)
den Kummer herauszuschreien als ihn in sich hineinzufressen,
dachte er. Es half Line, die Erlebnisse der letzten Stunden zu verarbeiten und
die angestaute Anspannung zu lösen, um wieder zu sich selbst zu finden.
Dann stand er auf, ging zu ihr, setzte sich neben sie und
wartete, dass sie sich beruhigte. Irgendwann legte sie den Kopf an seine Brust
und ließ zu, dass er sanft ihren Rücken streichelte. Schließlich schlang er
behutsam die Arme um sie und wiegte sie sanft hin und her wie ein Kind.
Lange saßen sie einfach nur so da und sprachen kein Wort.
Conrad gestand sich ein, dass er die Nähe des Mädchens genoss. Er roch den Duft
ihres Haares, der sich mit ihrem natürlichen Körpergeruch zu einer betörenden
Mischung verband. Er spürte ihre Wärme und wollte sie am liebsten niemals mehr
loslassen.
Etwas Warmes schmiegte sich plötzlich an sein Bein. Der
Kater mit dem Fleck auf der Nase war aus dem Nichts aufgetaucht und suchte die
Nähe der Menschen.
Line war sichtlich erleichtert, als sie ihn sah.
„Flecki“, sagte sie liebevoll und setzte ihn sich in den
Schoß, wo er sich sofort zusammenrollte und wohlig schnurrte.
Conrad wusste, wie sehr Line an dem Tier hing und war froh,
dass wenigstens ihm nichts passiert war.
Am Morgen wollten sie aufbrechen, auch wenn Conrad keine
Ahnung hatte, wie sie es ohne Geld und ausreichend warme Kleidung zu dieser
Jahreszeit schaffen sollten, sich bis in seine Heimat durchzuschlagen.
Aber sie hatten keine Wahl. Er war Entbehrungen gewöhnt und
Line war jung und stark. Irgendwie würden sie es schon schaffen.
Noch immer trug er das blaue Schleifenband in der Tasche,
das er für Line in Memmingen auf dem Markt gekauft hatte. Es würde sich schon
eine passende Gelegenheit ergeben, es ihr zu schenken.
Die Dämmerung brach herein und es wurde Zeit, ein
provisorisches Nachtlager aufzuschlagen.
Zunächst entfachte Conrad ein Feuer, welches sie in der
Nacht wärmen sollte. Holzreste waren genügend vorhanden.
Mit einer halb verkohlten Holzlatte stocherte er dann in den
Resten der Behausung herum, in der Hoffnung, noch irgendetwas Verwertbares zu
finden.
Line war unterdessen zum Brunnen gegangen, um Wasser zu
holen. Sie füllte gerade den Holzeimer, als sie erschreckt zusammenzuckte.
Am Waldrand war ein Reiter aufgetaucht. Er ritt auf einem
kräftigen, dunklen Rappen und führte ein Lasttier mit. Sein Helm und die
Metallplatten auf seinem Waffenrock blitzten in den letzten Sonnenstrahlen und
seine hünenhafte Figur sah selbst aus dieser Entfernung beeindruckend aus.
Das Mädchen erschrak bis ins Mark und duckte sich hinter die
Brunnenmauer. Hektisch hielt sie nach Conrad Ausschau, aber sie konnte ihn
nirgends entdecken.
Verzweifelt überlegte sie, was sie tun sollte. Bisher hatte
der Reiter sie nicht entdeckt und sie konnte hoffen, dass er einfach weiter
zog.
Was aber, wenn er zum Brunnen ritt, um seine Pferde zu
tränken und sich zu erfrischen? Dann musste er sie unweigerlich entdecken.
Vorsichtig lugte sie hinter ihrer Deckung hervor und sah
Conrad, der mit dem Schwert in der Hand ein paar Meter von ihr entfernt stand
und dem Fremden entgegenblickte.
Dieser gab jetzt seinem Pferd die Sporen und näherte sich im
Galopp.
Ohne sich zu rühren erwartete Conrad den Reiter, der jetzt einen
lauten Ruf ausstieß und vom Pferd sprang, um sich auf ihn zu stürzen. Es war
ein riesiger Kerl mit breiten Schultern und jetzt, da er nahe genug war, sah
Line eine Furcht einflößende Narbe in seinem Gesicht.
Conrad schien wie erstarrt und hob nicht einmal sein
Schwert, um sich zu verteidigen. Der Hüne packte ihn an den Schultern und riss
ihn zu sich heran.
Ohne zu überlegen zog Line ihr Messer und gab ihre Deckung
auf. Zu allem entschlossen stürzte sie sich auf den Fremden und wollte ihm das
Messer in die Seite rammen. Aber der Hüne war schneller. Mit einer beinahe
lässigen Bewegung wehrte er den Angriff ab und hielt ihr Handgelenk in eiserner
Umklammerung, so dass sie das Messer fallen lassen musste.
Dann ließ er sie los und wandte sich wieder Conrad zu,
schlang seine säulenartigen Arme um ihn und hob ihn ein Stück in die Höhe.
„Habe ich doch gewusst, dass die Halsabs-hneider dich nicht
bekommen haben!“, rief er freudig.
Er hatte eine tiefe Stimme und konnte offenbar das ‚ sch’ nicht aussprechen.
„Du lebst!“
„ja, noch “, erwiderte Conrad lachend, „aber gleich
wirst du mich zerquetschen, du ungehobelter Normanne.“
Erst
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