Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
vorn Tumult. Ein Pferd
scheute und ein Mann fluchte.
Automatisch griff Conrad zum Schwert und blickte sich
wachsam um, konnte aber nur Bäume und Büsche sehen, keine finsteren Gestalten.
Auch vorn, wo der Lärm herkam, konnte er von hier aus nichts Ungewöhnliches
entdecken.
Die Wagen waren zum Stehen gekommen. Die Waffenknechte
sicherten die Flanken, machten sich kampfbereit und spähten in den Wald.
„In den Wagen“, rief er Constance zu. Seine Augen suchten
Line, konnten sie aber nirgends entdecken. Sie musste vorne beim ersten Wagen
sein.
Hektor preschte los, als er ihm die Sporen gab. Im nächsten
Moment war er an der Spitze des kleinen Zuges, um zu sehen, was dort für
Aufregung sorgte.
Er traute seinen Augen nicht, als er mitten auf dem Weg
einen großen Wolf stehen sah, der sie mit gefletschten Zähnen und gesträubtem
Fell musterte und ein tiefes Knurren hören ließ. An seinem Maul und am
Brustfell klebte getrocknetes Blut.
Hektor schnaufte, warf den Kopf hoch und scharrte mit den
Hufen. Zwischen dem zotteligen Wolf und dem Wagenzug hatten sich drei
Fußsoldaten mit Speeren aufgebaut, um das Ungetüm in Schach zu halten. Aber
niemand wagte es, ihn anzugreifen.
Normalerweise mieden Wölfe den Menschen. Nur im Winter, wenn
der Hunger sie trieb, wagten sie sich im Rudel in die Nähe der Siedlungen und
rissen gelegentlich ein paar Tiere.
Wie Conrad wusste, wurden Menschen nur sehr selten von
Wölfen angefallen, obwohl es viele anders lautende Schauergeschichten gab. Ein
Wolf aber, der schon einmal einen Menschen angegriffen hatte, verlor seine
Scheu und wurde gefährlich. Dieses Tier verhielt sich nicht normal. Es lief
nicht weg. Vielleicht stammte das Blut an seinem Maul und seiner Brust sogar
von einem Menschen.
Kurzerhand beugte Conrad sich zu einem der Bewaffneten
herunter, nahm ihm den Speer ab und holte aus, um das Ungetüm vom Pferd aus zu
erlegen.
Aber er kam nicht zum Wurf.
Verblüfft sah er plötzlich Line zwischen sich und seinem
Ziel auftauchen. Langsam und unbeirrt ging sie auf die Bestie zu, die mit
gesträubtem Fell, angelegten Ohren und gebleckten Zähnen einen Angst
einflößenden Eindruck machte.
Auch die Waffenknechte standen wie erstarrt, als sie sahen,
wie das Mädchen sich ganz langsam dem Tier näherte. Alle hielten den Atem an
und keiner wagte, etwas zu sagen, um den Wolf nicht zu reizen oder zu
erschrecken.
Line hatte das Tier jetzt fast erreicht. Der Wolf fixierte
sie mit seinen kleinen Augen wie eine Beute. Seine Muskeln zitterten leicht
unter der Erregung und Anspannung, als er sich sprungbereit machte.
Geh zur Seite , dachte Conrad angestrengt, als könne
Line seine Gedanken hören. Er hielt den Speer weiterhin wurfbereit und war bis
auf Äußerste angespannt.
In diesem Moment sank Line langsam in den Schneidersitz,
noch immer vor sich hinmurmelnd. Der Wolf hätte sie mit einem einzigen Satz
erreichen können, rührte sich aber nicht. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Alle standen stocksteif, als wären sie in der Bewegung eingefroren und starrten
auf den Wolf und das Mädchen.
Jetzt streckte Line sogar eine Hand aus, mit der Handfläche
nach unten, wobei sie fast die geifernde Schnauze des Wolfes berührte. Aber
auch das Untier schien wie erstarrt. Ein paar Augenblicke verstrichen, die
Conrad wie eine Ewigkeit vorkamen. Seine Nerven waren bis aufs äußerste gespannt.
Dann geschah das Unfassbare. Der Wolf senkte den Kopf und
bleckte nicht mehr die Zähne. Er stellte die angelegten Ohren auf und ging
vorsichtig einen kleinen Schritt vor.
Conrad blieb fast das Herz stehen, als das Untier an Lines
Hand schnupperte. Seine Nackenhaare waren nicht mehr gesträubt und plötzlich
legte er sich zum Erstaunen aller direkt vor Line auf den Bauch. Das Mädchen
streichelte jetzt sogar sein struppiges Fell und er ließ es nicht nur
geschehen, sondern schien es sogar zu genießen.
Ungläubig sahen alle auf Line und den Wolf. Conrad senkte
langsam den Speer. Er konnte es nicht fassen. Jetzt legte der Wolf sich ganz
hin und ließ sich von dem Mädchen kraulen wie ein kleines Hündchen.
Langsam entspannten sich auch die Männer. Einige schüttelten
mit dem Kopf, anderen stand noch immer der Mund offen.
Line drehte sich lächelnd um und winkte Conrad zu, der nicht
wusste, ob er ihr wegen ihres unüberlegten Handelns böse sein sollte.
Geronimo war der Erste, der sich in ihre Nähe traute. Das
Tier schien ihn kaum zu beachten, als er sich neben Line setzte. Auch
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