Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
Line sich ein notdürftiges Lager aus dem feuchten
Stroh aufgeschüttet, das den Boden bedeckte. Durch eine kleine vergitterte
Öffnung in acht Fuß Höhe konnte sie ein Stück des grauen Himmels erkennen.
Line machte sich keine Illusionen. Sie hatte ihr Leben verwirkt.
Man hatte großmütig darauf verzichtet, sie anzuketten, da sie nicht als
gefährlich galt und bereits gestanden hatte. Eine Vergünstigung, die sie dem
Richter verdankte.
Die Frau, die bis vor ein paar Stunden noch mit ihr die
Zelle geteilt hatte, war verschwunden. Man hatte sie wortlos aus der Zelle
geschleift und bisher nicht wieder zurückgebracht.
Die Frau hieß Hiltraut und war Wehmutter in Würzburg. Von
einem Stadtrat war sie angeklagt worden, seine gebärende Frau und sein
ungeborenes Kind getötet zu haben. Zeugen sagten aus, sie hätte sich ein paar
Wochen zuvor mit der Frau des Ratsmitgliedes auf dem Markt gestritten.
Auch Line hatte nicht nur einmal erlebt, dass Mutter oder
Kind, manchmal auch beide, während der Entbindung starben. Manchmal lag das
Kind falsch, so dass es im Mutterleib gedreht werden musste, was nicht immer
gelang. Starb das Kind im Mutterleib, gab es auch für die Mutter kaum noch eine
Rettung.
Es war eine sehr schwere Geburt, wie Hiltraut ihr erzählt hatte.
Das Kind wurde tot geboren und die Mutter starb an den starken Blutungen. Hiltraut
hatte alles in ihrer Macht stehende getan, konnte sie aber nicht retten. Das
war leider keine Seltenheit.
Aber was zählten die Beteuerungen einer Wehmutter gegen die
Anklage eines angesehenen Stadtrates?
Die alte Hiltraut war seit Tagen gefoltert worden, wollte
aber nicht gestehen.
Line versuchte, ihre Schmerzen zu lindern, aber sie hatte
weder sauberes Wasser noch Medikamente zur Verfügung. Schließlich hatte sie der
alten Frau die Hände auf den Leib gelegt und beruhigend auf sie eingeredet,
dann hatte sie die alte Weise gesungen, in der sie immer Trost fand. Die
Wehmutter war eingeschlafen und erst Stunden später wieder erwacht.
Um sie von ihren Schmerzen abzulenken, hatte Line ihr
erzählt, was ihr vorgeworfen wurde.
Die alte Frau hatte sie lange angesehen. „Es is nich schad
um den geilen Schindel. Aber um dich, Kindchen. Hättste ihn ma lieber gelassn“,
hatte sie mit ihrem geschwollenen, fast zahnlosen Mund genuschelt.
Als sie den entsetzten Gesichtsausdruck Lines sah, hatte sie
hinzugefügt: „Deine Unschuld wirschte hier jedenfalls auch nich behaltn. Wenn
sie kommen, tu einfach als würdste schlafn un wehr dich nich Kindchen, dann
tuts nich so weh.“
„Wenn wer kommt?“, hatte Line ängstlich gefragt.
„Der Henkersknecht und der Veit, son quadratischer Kerl,
sieht aus wien Sohn vom Henker, is aber sein Neffe.“
Die alte Frau hatte ihren zahnlosen Mund zu einem freudlosen
Grinsen verzogen. „Die ham sogar mich genommen, obwohl ich nich mehr die
Jüngste bin. Du aber bist jung un hübsch. Das lassn die sich nich entgehn.
Glaub ja nich, dass es sie stört, wenn du dreckig bist un stinkst. Daran sind
die gewöhnt.“
Nach einer kurzen Pause hatte sie noch hinzugefügt: „Nu guck
nich so blöd. Du hast keine Rechte hier, Kindchen. Es is besser, wenne das
kapierst. Dein Leben is sowieso nix mehr wert. Also wofür willste deine
Unschuld bewahrn? Die sind ohnehin sauer auf dich, weil sie dich nich foltern
dürfn.“
Kurz nach diesem Gespräch hatten sie die Alte geholt. Line wusste
nicht, ob man sie noch immer verhörte, folterte oder in eine andere Zelle
verlegt hatte. Vielleicht lebte sie auch schon nicht mehr. Es kam nicht selten
vor, dass jemand die Folter nicht überstand.
Ängstlich wartete Line seitdem darauf, dass man auch sie
holen oder über sie herfallen würde. Sie war verzweifelt. Ein einziges Mal hatte
sie mit einem Mann geschlafen und die Erinnerung daran war wunderbar. Sie
bereute, dass alles so gekommen war und hoffte, dass Conrad mit seiner
Constance glücklich wurde.
Verzweifelt betete sie zur Jungfrau Maria. Es durfte einfach
nicht sein, dass sie vor ihrer Hinrichtung auch noch geschändet wurde. Wäre es
ihr möglich gewesen, hätte sie ihrem Leben selbst ein Ende gemacht.
Im Halbdunkeln der Kerkerzelle fiel ihr Blick auf eine tote,
bereits angefressene Ratte. Angewidert wandte sie sich ab. Aber dann kam ihr
eine Idee.
Aus dem am Boden liegenden Stroh suchte sie sich ein Bündel
möglichst dicker und harter Halme zusammen.
Dann zog sie ihr Kleid hoch, biss die Zähne zusammen und
hieb mit den spitzen Halmen so oft auf ihre
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