Das mysteriöse Pergament 02 - Irrwege (German Edition)
vermissen.
Wütend und verzweifelt brüllte er immer wieder nach dem
Richter.
Nach einiger Zeit kam tatsächlich einer der Wächter, aber
nur um ihm zu drohen, ihn zu fesseln und zu knebeln, wenn er nicht endlich Ruhe
geben würde.
Das hatte er wirklich prima hingekriegt, dachte Conrad mit
einem Anflug von Sarkasmus. Er hatte Line aus dem Kerker befreien wollen und
war selbst dort gelandet – welch grausame Ironie des Schicksals. Oh Line,
was habe ich getan , dachte er verzweifelt.
Entmutigt ließ er sich ins Stroh fallen und stierte vor sich
hin. Denke nach, sagte er sich, denke nach. Es musste doch einen
Ausweg geben. Aber soviel er auch grübelte, ihm wollte nichts einfallen, was
auch nur annähernd Aussicht auf Erfolg versprach.
Zunächst nahm Conrad an, allein in der Zelle zu sein. Aber
als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte er eine kleine
Gestalt, die unbeweglich in der gegenüberliegenden Ecke hockte. Im ersten
Moment glaubte er, der Mann sei tot. Aber dann sah er ihn atmen, langsam und
gleichmäßig. Völlig regungslos saß er im Schneidersitz an der Wand, die Hände
gefaltet und die schmalen Augen im runden Gesicht gesenkt. Er hatte einen
dünnen Kinnbart und seine Haut war sehr hell und sah ungesund gelblich aus. Der
Mann war völlig in sich gekehrt und schien gar nicht wahrzunehmen, was um ihn
herum geschah.
Trotzdem fand Conrad es tröstlich, nicht ganz allein zu sein
und sprach ihn an, indem er sich förmlich vorstellte und ihn nach seinem Namen
fragte.
Doch der Mann antwortete nicht und ließ auch durch keine
Regung erkennen, ob er ihn gehört hatte. Also ließ Conrad ihn in Ruhe und gab
sich eine Weile seinen trüben Gedanken hin. Er begann, die Mauersteine an der
gegenüberliegenden Wand zu zählen. Beinahe zwanghaft zählte er auch die Steine
der danebengelegenen Wand. Dann wusste er, dass die Kerkerzelle quadratisch
war, mit einer Seitenlänge von fast vier Klaftern, die Decke bestand aus einem
Kreuzgewölbe und war in der Mitte mehr als zwei Klafter hoch. Diese Tätigkeit
war zwar ziemlich sinnlos und die Kerkergröße völlig uninteressant, aber es
beschäftigte ihn eine Weile, lenkte ihn ab und beruhigte etwas seine Nerven.
Als er nach einiger Zeit wieder zu dem merkwürdigen Mann
hinüberschaute, hatte der Kerl sich keinen Deut bewegt, schaute ihn nun aber
direkt an, als schien er auf etwas zu warten.
Plötzlich erhob er sich ohne die Hände zu benutzen
geschmeidig aus dem Schneidersitz, wobei seine Fußketten rasselten, verbeugte
sich und sagte mit hoher Stimme: „Li Chan. Mein Name ist Li Chan. Ich Chinese.
Willkommen in mein Haus.“ Dann sank er wieder in seine vorherige Pose zurück.
Conrad runzelte die Stirn, War der arme Kerl nicht ganz
richtig im Kopf oder war die Bemerkung sarkastisch gemeint? Wie auch immer,
wenigstens konnte er sprechen. Wer weiß, wie lange der Kerl hier schon
schmorte. Kein Wunder, wenn er etwas wunderlich war.
„Ich hoffe, ich werde deine Gastfreundschaft nicht über
Gebühr in Anspruch nehmen“, antwortete er höflich.
Jetzt lächelte der kleine Kerl, wobei seine Schlitzaugen
noch schmaler wurden. Wahrscheinlich war er doch nicht schwachsinnig, dachte
Conrad, revidierte seine Meinung aber sofort wieder, als sein Leidensgenosse
plötzlich aufsprang und sich gebärdete, als wäre er völlig durchgeknallt.
Zunächst erstaunt, dann fasziniert beobachtete Conrad, wie
der kleine Mann durch die Zelle sprang, soweit es die Reichweite seiner Ketten
erlaubte. Dabei schlug er mit Armen und Beinen um sich, wirbelte um die eigene
Achse und überschlug sich sogar in der Luft.
Unwillkürlich staunte Conrad über die unglaubliche
Sprungkraft des kleinen Mannes und die Körperbeherrschung, die hinter den
blitzschnellen und doch koordinierten Bewegungen steckte, mit denen er eine
Armee unsichtbarer Feinde zu bekämpfen schien. Immer schneller wirbelte der
Mann herum, die schweren Ketten dabei wie Waffen gegen imaginäre Gegner
benutzend. Es war ein Wunder, dass er sich nicht in ihnen verhedderte.
Schattenkämpfe zu Übungszwecken mit allen möglichen Waffen
waren Conrad nicht unbekannt, aber so etwas hatte er noch nie im Leben gesehen.
So plötzlich wie der Kerl begonnen hatte, beendete er auch
seinen wilden Tanz. Zum Abschluss sprang er besonders hoch und trat so hart mit
dem nackten Fußballen gegen die Kerkermauer, dass der Staub von der Wand
rieselte und er sich eigentlich das Bein hätte brechen müssen.
Dann sank er wieder in den
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