Das Mysterium Des Himmels
was ihnen die weisen Frauen und Männer über die Götter und das Leben sagten. Die Menschen hatten die Verbindung zum allumfassenden Leben verloren. Oh ja, zum Totenfest streuten sie wie immer Mehl und Salz in den Wind, und Speisen für die Verstorbenen und die Geister wurden gestiftet, aber in Wahrheit waren die Gaben geringer ausgefallen, als es in früheren Wintern der Fall gewesen war. Talale lehnte sich ein wenig an die Wand. Manchmal überkam sie eine kleine körperliche Schwäche. Als sie während der Feier zum Totenfest Mehl und Salz in das Feuer geworfen hatte, da kam aus der Menschenmenge leichter Unmut über diese Verschwendung von Wintervorräten auf. Sie hatte das Gemurmel geflissentlich überhört und versucht, den Menschen klarzumachen, dass die Toten in Unfrieden aus den Gräbern kommen werden, wenn man sie nicht respektvoll behandelte. Aber richtig geholfen hatte das nicht. Die Leute beschäftigten sich lieber mit der alltäglichen Welt und den Späßen, die ihnen Geschichtenerzähler darstellten. Erst als Talale von den Seelen der Toten gesprochen hatte, war es doch ganz still geworden. Der Leib ist wie eine starke Mauer, in der die Seele wie gefangen und gefesselt existieren muss, hatte sie gesagt. Erst mit dem Tod des Körpers kann sie sich befreien und gleitet wie ein Luftwesen davon. Sie ist wie eine weiße Taube, die aus dem Mund des Toten hinüberschwebt in die Anderswelt. Und am Abend der toten Seelen erlauben ihnen die Götter eine Rückkehr, weil sie damit den Menschen mitteilen, dass nun der Herbst sie verlässt und der Winter Einzug halten wird. Seht deshalb zu, dass ihr an den Feuerstellen Platz lasst für die Toten, damit sie sich nach der langen Reise wärmen können. Dann hatte Talale die Seherin die Arme gehoben und die Götter um Beistand gebeten, denn in dieser Nacht waren nicht nur die guten Seelen unterwegs, sondern auch die bösen Geister.
Talale veränderte ihre Haltung und lauschte wieder hinauf. Aber sie hörte nichts und hing schnell wieder ihren Gedanken nach.
Am Tag nach dem Totenfest hatte sie aus der Asche vieler Feuerstellen die Zukunft für die Sippen gelesen und dabei war ihr nicht entgangen, wie sehr sich die Leute mit Geschenken an sie gute Nachrichten einhandeln wollten. Geschwiegen hatte sie aber aus einem anderen Grund. Bei vielen Feuern hatte die Glut noch geleuchtet, so als wolle sie nicht verlöschen. Es war der Tag, an dem aller Seelen Freiheit geschah und Talale hatte das Feuer am Himmel gesehen, es aber nicht deuten können. Zehn Nächte danach gab es das Gänsefest. Die jungen Menschen liefen verkleidet durch den Ort, über die Felder und in die Wälder, um überall laut und vernehmlich die bösen Geister zu vertreiben. Sie trugen dazu geschnitzte Masken, damit die Geister sie nicht erkennen konnten, denn sonst würden sie in ihre Häuser kommen, um sich an ihnen zu rächen. Talale war auf den großen Platz geführt worden und man hatte vor sie eine Gans gelegt, die ein präziser Werfer mit einer Steinschleuder vom Himmel geholt hatte. Ein Feuer wurde entfacht, in das Birkenzweige und Wacholder geworfen wurden. Die ungebratene Gans wurde Talale auf einer geschliffenen Steinscheibe vorgelegt und sie hatte mit einem kleinen Messer sofort damit begonnen, den Vogel aus dem Götterhimmel zu öffnen. Die Menschen hatten sich an sie herangedrängt, weil die immer wiederkehrende Frage war, ob es weißes Fleisch und viel Fett zu sehen geben würde oder die Gans dunkel im Fleisch war. Ein weißes Fleisch sagte einen schneereichen und harten Winter voraus, dunkles Fleisch bedeutete zwar Schneefall, aber einen verträglichen Winter. Aus den Innereien wurden die Prophezeiung und die Zukunft gelesen und dabei war kein fröhliches Lachen bei den Leuten entstanden, denn die Seherin hatte geschwiegen. Talale erhob sich und lief zur Tür. Ein Knabe kam und brachte ihr frisches Trinkwasser. Sie sah Ekuos an der Tür stehen und schüttelte leicht den Kopf. Sie wartete auf die Antwort des Himmels auf ihre Frage: Was wird mit uns geschehen?
Ekuos blieb. Er stand an der Tür zum Tempel und blickte sich um. Die Wege im Ort waren menschenleer. In den Gassen tummelten sich nur einige Hunde. Vom Hafen her klangen einige Stimmen herüber. Das Gesicht der Welt blieb unbewegt. Gab es keine Antwort, weil sie schon ausgesprochen worden war und sie nur nicht gehört wurde? In ihm wuchs die Verzweiflung. Er biss sich auf die Lippe, bis er den Geschmack des Blutes spürte. Aber war das
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